Rechtsanwalt Joachim Voigt-Salus ist Insolvenzverwalter und Gründungspartner der Sozietät VOIGT SALUS. Durch die Spezialisierung der Kanzlei in der Sozialwirtschaft erlebt er die Krise in der Seniorenpflege bei seiner Arbeit fast tagtäglich. Im Interview spricht der Experte über Ursachen und mögliche Wege aus der aktuellen Schieflage.
Herr Voigt-Salus, wo liegen für Sie die größten Herausforderungen der Pflegebranche?
Die Inflation und die massiv gestiegenen Energiekosten können nicht ohne weiteres durch Preiserhöhungen aufgefangen oder weitergegeben werden. Hinzu kommen die Herausforderungen durch den Pflegenotstand. Einerseits wandern viele Mitarbeiter zu Leiharbeitsfirmen ab. Andererseits müssen die Einrichtungen selbst teilweise auf kostenintensive Leiharbeit setzen, um den Regelbetrieb aufrechtzuerhalten. Auch langfristige strukturelle Entwicklungen wie die Ein-Zimmer-Politik oder ein hoher Betreuungsschlüssel bedeuten Kostenfaktoren. Zusammengenommen stellt die derzeitige Marktsituation extreme Anforderungen an die Betriebe. Selbst kerngesunde Unternehmen haben teils existenzielle Sorgen.
Können Sie einen aktuellen Fall aus Ihrer Praxis als Insolvenzverwalter schildern?
Eines unserer Verfahren ist das Seniorenpflegeheim Muldentalstift in Naunhof. Die Betreibergesellschaft war durch die aktuelle Lage in finanzielle Bedrängnis geraten, was außergerichtlich nicht mehr abzuwenden war. Durch das eröffnete Insolvenzverfahren haben wir die Chance, die Arbeitsplätze zu retten und das vertraute Zuhause der Bewohner zu erhalten. Nicht zuletzt durch eine Welle der Sympathie, die uns von allen Seiten entgegenschlug, konnten wir das operative Geschäft im Verfahren stabilisieren und die Auslastung sogar erhöhen. Die große Loyalität des Teams half auch dabei, aggressiven Abwerbeversuchen von Wettbewerbern zu trotzen. Um die Einrichtung finanzwirtschaftlich zu sanieren, befinden wir uns in Verhandlungen mit den Kostenträgern. Zudem wurde ein Investorenprozess angestoßen, um die Möglichkeiten für einen Erhalt und eine Neuaufstellung weiter ausloten und bewerten zu können.
Welche Maßnahmen können Betreibern in einem Insolvenzverfahren helfen, sich neu aufzustellen?
Innerhalb einer gerichtlichen Sanierung hat eine Pflegeeinrichtung wie das Muldentalstift Instrumente zur Hand, die sie sonst nicht einsetzen könnte. Im Rahmen eines Planverfahrens können Verbindlichkeiten durch einen Kapitalschnitt reduziert werden. Es steht zusätzliche Liquidität durch das Insolvenzgeld zur Verfügung, da hierdurch Löhne und Gehälter der Mitarbeiter für bis zu drei Monate übernommen werden. Auch die Neustrukturierung des Betreibers ist durch die Abspaltung von Bereichen oder die Übertragung an einen Investor möglich. Trotz allem braucht es jedoch immer einen Kern, der leistungswirtschaftlich funktioniert, oder der zumindest wieder funktionstüchtig aufgestellt werden kann. Können Einnahmen- und Kostenseite hingegen nicht in Einklang gebracht werden, dann muss eine Einrichtung, so bitter das auch sein kann, geschlossen werden.
Essenziell sind dabei die Verhandlungen mit den Kostenträgern. Wenn hier die Einnahmen aufgrund der Struktur des Pflegeheims nicht über das absolut notwendige Maß hinaus steigerbar sind, bedeutet dies das Aus der Einrichtung. Etwa, wenn sie zu klein ist oder gesetzliche Auflagen nur durch massive Zusatzkosten erfüllbar sind.
Wie wird sich die Lage für die Branche mittel- bis langfristig entwickeln?
Das ist schwer zu sagen. Einerseits ist es politisch gewollt, dass die Kassenbeiträge nicht weiter steigen. Das zwingt die Kassen, in den Verhandlungen zur Kostenübernahme sehr restriktiv zu agieren. Andererseits steigen die Auflagen zum Wohl der Bewohner immer weiter – und damit der zusätzliche Aufwand für die Einrichtungen. Fakt ist: Durch die Alterung der Gesellschaft wird der Bedarf an Pflegeleistungen weiter zunehmen, zugleich dürfte sich der Pflegenotstand aber verschärfen. Ein möglicher Ansatz, um das Dilemma zu lösen, ist mir kürzlich in Bremen begegnet. Hier ist es das Ziel, Menschen möglichst lange durch Formen wie das betreute Wohnen zu unterstützen und erst spät in stationären Einrichtungen unterzubringen. Ob solche Modelle genügen, dürfte zweifelhaft sein.
Wie sollte sich eine Pflegeeinrichtung heute aufstellen, um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Wichtig ist es, nur Leistungen anzubieten, die auch rentabel sind. Ein rein altruistisches Verhalten führt ohne ein verlässliches „deficit spending“ zum wirtschaftlichen Tod. Dies klingt banal, ist aber im Wohlfahrtsbereich nicht immer zwingendes Prinzip.
Essenziell ist auch, Personal zu halten und neue, gute Kollegen zu finden. Um einen Vorteil gegenüber Wettbewerbern zu erlangen, müssen sich Betreiber deshalb um die Beschäftigten kümmern und beispielsweise ein besonderes Arbeitsklima schaffen. Zudem können zeitgemäße Raumkonzepte und Technologien wie spezielle Bettkonstruktionen für mehr Effizienz und eine Entlastung der Mitarbeiter sorgen. Dies kann die Menschen trotz niedrigerer Bezahlung vom Bleiben in ihrer Einrichtung überzeugen – statt zu einem Personaldienstleister zu wechseln.
Dennoch sind dies nur kleine Schritte, die die Gesamtsituation ohne politische und gesellschaftliche Änderungen nicht werden drehen können.
Und was können Politik und Gesellschaft tun, um die Situation zu verbessern?
Wir benötigen eine ehrliche Diskussion darüber, dass entweder die Kosten für die Pflege wegen der Überalterung der Gesellschaft weiter steigen oder die Leistungen entsprechend zurückgefahren werden müssen. Derzeit werden in alle Richtungen Wunder versprochen: Die Kassenbeiträge sollen stabil bleiben oder sogar sinken – zugleich würden aber die Leistungen immer mehr ausgeweitet. Das ist unrealistisch und vertieft die Probleme noch weiter. Stattdessen müssen sich Politik und Gesellschaft fragen: Was ist uns die Pflege wert? Wollen wir sie priorisieren und stärker unterstützen oder sind wir bereit, Abstriche hinzunehmen?
Kurzinfo
Joachim Voigt-Salus
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht,
Gründungspartner Kanzlei VOIGT SALUS.
Telefon: +49 341 23178 0
E-Mail: leipzig@voigtsalus.de
www.voigtsalus.de
Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2024 zu finden.