von Dr. med. Sonja Krupp

Menschen, die in Seniorenheimen wohnen, sind fast immer in ihrer Mobilität beeinträchtigt. Wer noch unter Zuhilfenahme eines Hilfsmittels selbstständig das Zimmer verlassen kann, gehört bereits zu den fitteren Bewohnenden. Aber wo auch immer im Leistungsspektrum zwischen altersentsprechendem Normalstatus (also Aufstehen und beschwerdefreies Gehen in physiologischer Geschwindigkeit ohne Hilfsmittelbedarf) und Immobilität sich eine Person befindet, eine Regel gilt wie ein Artikel im „Grundgesetz des Körpers“: Was kaum genutzt wird, spart der Körper bald ein, was oft bis zur Leistungsgrenze genutzt wird, baut sich auf, so gut es eben geht.

Über die dominante Rolle der Bewegung für die gesundheitliche Prognose in jedem Alter wissen wir sicher nicht alles, aber mehr als genug, um zu erkennen: Dies ist der Faktor, über den wir mit den geringsten unerwünschten „Nebenwirkungen“ das Wohlbefinden von heute und morgen beeinflussen können. Aber reicht vielen Seniorenheim-Bewohnenden nicht der Erhalt dessen, was noch an Bewegungsfähigkeit verblieben ist oder sollten sie auch in dieser Lebenssituation nach einer Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit streben?

Nach Durchführung von vier Studien in Seniorenheimen lautet die Antwort der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck auf beide Fragen „Ja“. Die Chancen dafür, in einem Jahr noch immer das zu können, was aktuell geht, steigen bei denen, die ein bisschen mehr wollen als das, was ihnen „in den Schoß fällt“ – denn der Alterungsprozess beschleunigt das eingangs erwähnte „Sparprogramm“ und gesundheitliche Komplikationen mit entsprechend verminderter körperlicher Aktivität führen immer wieder zu Leistungseinbrüchen. So ist der Status quo nach einem Jahr am ehesten bei denen gegeben, die zwischenzeitlich das Ziel verfolgt hatten, ihre Leistungsfähigkeit zu verbessern und damit etwas „Puffer“ hatten, mit dem sie kleinere gesundheitliche Rückschläge ausgleichen konnten.

Ziele, die auf den ersten Blick nichts mit dem eigenen täglichen Leben zu tun haben – beispielsweise die Verbesserung der Handkraft, die mit einem entsprechenden Messgerät erhoben und als zu niedrig befunden wurde – sind für viele Personen wenig nachvollziehbar und können die Motivation daher weniger steigern als Aktivitätsziele, die sich aus dem persönlichen Tagesablauf ergeben – beispielsweise das selbstständige Öffnen von Flaschen. Gerade der ältere Mensch möchte unmittelbar ableiten können, wozu es gut sein soll, aktiv zu werden und sich anzustrengen. Um Seniorenheim-Bewohnende in strukturierter Form darin zu unterstützen, sich realistische, für sie selbst bedeutsame Aktivitätsziele zu setzten und deren (teilweise) Erreichung im Verlauf zu verfolgen, hat die Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck die „Geriatric Goal Attaining Scale“, kurz Geri-GAS, entwickelt. Sie wird im Rahmen von zwei Präventionsprojekten eingesetzt, die beide 2019 starteten (PfleBeO, POLKA).

Bei Bewohnenden, die zum Mitmachen bereit sind, wird vorab anhand der „Lübecker Skala der Basis-Mobilität“ (siehe Seniorenheim-Magazin 02/2022) festgestellt, inwieweit sie in ihrer (Fort-)Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind. So kann man besser abschätzen, welche Aktivitätswünsche sich mit etwas Unterstützung tatsächlich verwirklichen lassen könnten, welche unrealistisch hoch gegriffen sind und wo eigentlich schon sofort mehr Mobilität möglich wäre, als täglich abgerufen wird. Tabelle 1 zeigt die Dokumentation eines solchen Gespräches mit Zielvereinbarung entsprechend den individuellen Wünschen der pflegebedürftigen Person, Tabelle 2 das Ergebnis im Verlauf. Um zu überprüfen, ob das Ziel näher rückt oder was dem ggf. entgegensteht sowie möglicherweise Ziele anzupassen, sind monatliche Intervalle anzuraten. In Anbetracht der Personalknappheit ist zur Förderung der Erfüllung von Aktivitätswünschen eine enge Kooperation des gesamten Teams eine der Voraussetzungen.

Datum: 28.06.2023Beteiligt (Kürzel, Funktion): Frau XX (Bewohnerin), AMe (Pflege), BLi (Soziale Betreuung)
Ausgangsstatus (in der letzten Woche)
  1. Service-Personal gießt Blumen im Zimmer der Bewohnerin.
  2. Bewohnerin kann ca. 20 m weit ohne Begleitung ohne Sitzpause am Rollator gehen, verlässt aber fast nie ihr Zimmer (“Ich kenne ja doch niemanden hier und kann nichts machen.”)
  3. Bewohnerin sitzt fast nur, ist nach einer Minute Stehen bereits erschöpft. Hört täglich einen Seniorensender mit Liedern der 1950-er Jahre im Internet-Radio und summt oft mit.
Messbares Ziel (im festgelegten Zeitraum erreichbar)
  1. Zweimal wöchentlich die Blumen im eigenen Zimmer selbst gießen.
  2. Einmal täglich zur Zimmernachbarin gehen (ca. 20 m) und ihr etwas aus der Zeitung vorlesen.
  3. Mindestens einmal täglich ein Lied im Stehen am Rollator anhören und im Takt marschieren.
Ziel wurde formuliert vonO überwiegend Bewohner*in
O überwiegend An-/Zugehörige
O x Personal, nämlich (Kürzel, Funktion): s.o. „Eigene Blumen gießen“ von Bewohnerin genannt
BemerkungenZu 1.: Bewohnerin hatte das Gießen früher selbst übernommen, bei leichter Demenz aber oft „übergossen“. Jetzt soll die Gießkanne nur zweimal wöchentlich gefüllt für sie bereitgestellt werden (Service-Personal), ansonsten weggeräumt werden.

Zu 2.: Das Lesen ist noch gut erhalten, direkt danach können einfache Inhalte wiedergegeben werden, werden dann aber schnell vergessen. Die Zimmernachbarin ist fast blind, geistig rege, freut sich immer sehr, wenn ihr jemand etwas vorliest.

Zu 3.: Tipp der Physiotherapeutin, um Ausdauer, Kraft und Gleichgewicht zu fördern.

Tabelle 1: Dokumentation eines Gesprächs über individuelle Aktivitätswünsche gemäß Geri-GAS

Datum: 01.08.2023Beteiligt: Frau XX (Bewohnerin), AMe (Pflege), BLi (Soziale Betreuung)
Aktueller Status (in der letzten Woche)
  1. Gießt Blumen im eigenen Zimmer zweimal wöchentlich mit bereitgestellter Gießkanne. Möchte künftig auch gern die Blumen der Zimmernachbarin gießen.
  2. Wurde von der Betreuungskraft 2 Wochen lang begleitet, jetzt erinnern, dann selbstständig. Holt dafür die Zeitung am Rollator gehend allein aus dem Aufenthaltsraum (ca. 40 m Hinweg).
  3. Fühlt sich bei längerem Stehen zu unsicher, um am Rollator auf der Stelle zu marschieren. Marschiert aber im Sitzen im Takt zur Musik durchschnittlich mindestens einmal täglich.
Bewertung
Ziel Nr.Aktueller Status im Vergleich zum Ausgangsstatus und Ziel
1234
viel schlechter als Ausgangsstatus
etwas schlechter als Ausgangsstatus
wie Ausgangsstatus
besser, näher am Ausgangsstatus als am Ziel
Xbesser, näher am Ziel als am Ausgangsstatus (Ziel nicht erreicht)
Xbesser, Ziel erreicht
Xbesser als im Ziel beschrieben
Fördernd warenVerständnisvolle Zimmernachbarin, bedankt sich sehr für das Vorlesen, mit „Gieß-Patenschaft“ einverstanden, achtet selbst darauf, dass es nur zweimal wöchentlich erfolgt. Ruft Frau XX an, um sie an das Vorlesen zu erinnern. Diese
fühlt sich dadurch wertgeschätzt (“Ich werde gebraucht”).
Hemmend warenBlutdruck im Stehen 110/70 mm Hg, vielleicht Mit-Ursache der geringen Stehdauer?
BemerkungenHausärztin ist informiert, will Medikation anpassen.

Tabelle 2: Verlaufsdokumentation gemäß Geri-GAS

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2023 zu finden.

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