von Rüdiger Jezewski

Jeder, der mit Menschen mit Demenz (MmD) zusammenlebt oder arbeitet, weiß, dass es im gemeinsamen Alltag durcheinander, stressig, phasenweise ungemütlich und schließlich auch chaotisch werden kann. Das vielleicht anfangs illusionierte Verständnis vom wertschätzenden Umgang liegt lange zurück und die Realität hat Einzug gehalten. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, denn sehr vieles gelingt sehr professionell in unseren Pflegeeinrichtungen im Umgang mit MmD und hat sich in unserem Pflegealltag gut etabliert.

Wir können also sagen, dass die Einrichtungen, die eine hohe Anzahl von MmD versorgen, einer kontinuierlich anhaltenden Ambivalenz ausgesetzt sind. Ich spreche nicht von Phasen, in denen Konzepte oder Ansätze (bspw. Person-zentrierter Ansatz) implementiert werden oder Einrichtungen sich auf eine spezielle Personengruppe neu einstellen, sondern von einem anhaltenden Zustand, in dem sich alle Pflegeeinrichtungen, die MmD betreuen und pflegen, befinden. Das ist neu und anders und genau dieser Situation sollte Führung und Leitung situativ begegnen.

Ein Beispiel aus dem Alltag

Das Bewohner*innen-Klientel hat sich massiv verändert. Oft kommen die Pflegebedürftigen mit hohem Hilfebedarf sehr schnell aus dem Krankenhaus und sie leiden an einer Demenz bzw. an einer anderen Erkrankung mit kognitiven Einbußen und gerontopsychiatrisch herausforderndem Verhalten. Die Pflegegrade stimmen dann meist nicht mit der Realität der Hilfsbedürftigkeit überein und eine zeitintensive Behandlungspflege muss weitergeführt werden. Und es passiert noch etwas! Nicht ganz unerheblich ist, dass sich ab dem Moment des Einzugs sofort und direkt ein Verhalten zeigt, dass „gehandelt“ werden muss. Es gibt keine Zeit des Vorbereitens, der Neuankömmling mit seinem Verhalten ist da und sofort präsent. In dieser Situation, so unsere idealisierte Vorstellung, sind alle verfügbaren Mitarbeitenden bei diesem Bewohner und begegnen ihm mit Wertschätzung, Empathie und mit Zeit für die Eingewöhnung, führen validierende Gespräche und können mit ihm zusammen den zukünftigen Alltag besprechen. Die Realität zeigt sich anders.

Mitarbeitende haben dann vor Ort die Aufgabe den Pflegeprozess weiterzuführen bzw. diesen zu initiieren. Dabei ist eine hohe Fachkompetenz in der Einschätzung der Risiken und deren Bewertung gefragt, die Zeit benötigt, die in der Regel so nicht da ist. Das wirkliche Ankommen eines neuen Bewohners ist in dieser Skizzierung noch nicht benannt.

Wir wünschen uns dieses Ankommen fachlich- menschlich, wissen aber auch, dass es nicht immer funktioniert. Und das liegt nicht an den Bewohner*innen. Fachkraft- und Personalressourcen, interne Arbeitsabläufe, Umsetzung der Konzeption, persönliche Fachkompetenz und das Führungsverhalten vor Ort, sind nur einige Voraussetzungen, die die oben beschriebene Situation positiv im Sinne des Bewohners (bedürfnisorientiert) oder negativ (funktional) verlaufen lassen können. Im Alltag kann schnell Chaos entstehen und wenn nicht korrigiert wird, besetzt das Chaos den Alltag.

Systemisch betrachtet ist dieses Verhalten ein schmerzhafter Anzeiger für eine notwendige Neuorientierung, die sich auf das Wesentliche wieder stärker konzentrieren sollte. Zuviel Nebenschauplätze haben den Kern unserer Arbeit besetzt. Herauszuführen und Orientierung geben ist dann Aufgabe von Führung und Leitung, die damit Werte setzt, Inhalte als Orientierung gibt und Maßnahmen initiieren kann. Nachfolgend drei Elemente, die eine Orientierung in der andauernden Ambivalenz geben können:

Bedürfnisorientiertes Pflege- und Betreuungsverständnis

Der person-zentrierte Ansatz ist eine gute Möglichkeit das Pflege- und Betreuungsverständnis in einer Einrichtung zu entwickeln und parallel dazu eine Konzeption für den Umgang mit MmD in der Einrichtung aufzubauen.

An erster Stelle steht die Reflexionsfähigkeit zur eigenen Arbeit, zu bisherigen Vorgehensweisen, zu üblichen Überzeugungen und Einstellungen, zu bestehenden Arbeitsabläufen und Konzeptionen. Dieser Prozess ist komplex und sollte nicht allein am Schreibtisch gelöst werden, sondern alle Bereiche einer Einrichtung einbeziehen. Alle Mitarbeitenden sind gefragt, da sie Teil der bestehenden Kultur sind und ihren Beitrag dazu leisten. Tom Kitwood gibt mit dem person-zentrierten Ansatz eine wunderbare Möglichkeit die Bedürfnisorientierung und das Person-Sein zu diskutieren und zu verstehen.

Die drei Hauptelemente sind:

  • Akzeptanz… bedeutet, die Einzigartigkeit des Individuums (Person-Sein) bspw. auch mit seinen Einschränkungen vorbehaltlos anzuerkennen
  • Empathie… bedeutet, ein einfühlendes – nicht wertendes Verstehen des anderen MmD
  • Kongruenz… bedeutet, die Echtheit im Kontakt mit MmD

In der Auseinandersetzung damit werden Sie als Einrichtung und als Person selbst eine Haltung entwickeln bzw. verstärken, die von großer Wertschätzung des Anderen geprägt ist. Im Pflege- und Betreuungsverständnis geht es also nicht um Funktionalität und Effektivität, sondern um die Art der Beziehung zu den uns anvertrauten Menschen. Von dieser Blickrichtung/Haltung aus können jetzt alle anderen Bestandteile betrachtet und reflektiert werden, die eine Einrichtung ausmachen. Damit setzen Sie klare Werte an denen sich Ihre Mitarbeitenden aber auch Kunden orientieren können. Ein Vorteil dieser Personen-zentrierten Haltung ist, dass wir selbst davon profitieren können. Wenn wir uns darauf einlassen, haben wir das Erleben verstanden zu werden und können dies weitergeben. Die Verbindung ist unser gemeinsames Menschsein. Materielle Werte kommen da schnell an ihre Grenzen, da es dabei fast immer Gewinner und Verlierer gibt.

Personenzentriertes Führungsverständnis

Dass die klassischen Überzeugungen von Führung in der Arbeit mit MmD nur bedingt funktionieren, liegt auf der Hand. Zu schnell würde sich die Orientierung an Zielerreichung und einer festgelegten Qualität einpendeln. Es reicht also nicht mehr nur Ziele zu setzen, Aufgaben zu planen, Entscheidungen zu treffen, Delegationen einzusetzen, Kontrollen durchzuführen und eine Rückmeldung zu geben, sondern benötigt ein tieferes Verstehen von Menschen die Hilfe benötigen und ein tieferes Verstehen von Menschen die Hilfe geben können. Dazu kommt, dass die Führungssituation nicht stabil ist und sich Rahmenbedingungen schnell und dauerhaft verändern.

Im person-zentrierten Führungsverständnis geht es also um eine gegenseitig wertschätzende Verbindung der Menschen mit dem Ziel, die „neue Situation gemeinsam zu gestalten, geprägt von einer person-zentrierten Grundhaltung gegenüber Menschen!“ Ob Bewohner oder Mitarbeiter, Angehöriger oder Kollege, egal, es geht um eine Haltung in der ich die Beziehung zu meinem Mitmenschen in den Mittelpunkt setze.

Fredmund Malik hat in seinem Führungsmodel als Basis sechs Grundsätze formuliert. Diese lassen sich m. E. sehr gut mit den Grundwerten einer person-zentrierten Grundhaltung verbinden. Malik geht von einem Kern der Verantwortung aus, der, geprägt von Grundsätzen, wirksam Führung ausüben kann. Ziel ist das Befähigtsein bzw. das Befähigen von Mitmenschen, in gemeinschaftlicher Selbstverantwortung, verantwortungsvoll zu handeln.

In der nachfolgenden Tabelle habe ich beispielhaft die Grundsätze nach Malik mit einem personen-zentrierten Verständnis verknüpft:

Hier einige Temperaturanforderungen:

Grundsätze wirksamer Führung nach Malik[1]Bedeutung im personen-zentrierten Führungsverständnis in der Pflege von MmD
Resultatorientierung

•          Welche Wirkung hat mein Handeln?

•          Welche Resultate erziele ich?

Resultatorientierung

•          Was bedeutet mein Handeln/ Entscheiden für den MmD?

•          Welche Wirkung wird bei den Mitarbeitenden zu beobachten sein?

Beitrag zum Ganzen

•          Es sind viele verschiedene Menschen am Werk.

•          Ich verstehe mich als ein Teil des Ganzen.

Beitrag zum Ganzen

•          Jeder Bewohner ist anders. Wir können von ihm lernen.

•          Nehmen wir uns nicht ganz zu ernst.

Konzentration auf Weniges

•          Gefahr des Verzettelns ist groß, da die Führungsaufgaben sehr komplex sind.

•          Gleichzeitig beschäftigen bedeutet nicht unbedingt überall erfolgreich zu sein.

Konzentration auf Weniges

•          In allen Aufgaben auf das Wesentliche konzentrieren.

•          Aufgaben auf das Grundverständnis reflektieren.

Stärken nutzen

•          Vorhandene Stärken nutzen, nicht unbedingt die Schwächen beseitigen.

•          Stärken in Aufgaben einbinden.

Stärken nutzen

•          Was können Sie gut?

•          Was sind deine Stärken?

•          Wie können deine Stärken für MmD eingesetzt werden?

Gegenseitiges Vertrauen

•          Bewirkt mehr als Motivation und jeder Führungsstil.

•          Beginnt mit zuhören.

Gegenseitiges Vertrauen

•          MmD können etwas!

•          Mitarbeitende sind kreativ.

•          Wir verurteilen nicht, wir lernen daraus.

•          Die Kraft liegt nicht im Einzelnen, sondern im System.

Positiv Denken

•          Bedeutet konstruktiv zu denken.

•          Blick auf Chancen nicht auf Probleme richten.

Positiv Denken

•          Nicht nur die Erkrankung Demenz sehen, sondern den Menschen und seine Kreativität.

•          Es geht oft darum, Phasen zu managen.

•          Offenheit für den Weg.

Der situative Führungsstil – Befähigung von Mitarbeitenden

Der dritte Baustein ist der schwierigste und aufwendigste. Es braucht Geduld, Kraft und Ausdauer, die gemeinsam entwickelte Haltung und das werteorientierte Führungsverständnis in operationalisierte Führungsarbeit zu transformieren. Die Begleitung von Führungskräften ist einer der Schlüssel, die zum Gelingen beitragen können. Das moderne situative Führungsverständnis ist dabei die passende Möglichkeit. Es geht um kurzfristige Bewältigung und Phasenbewältigungen, nicht nur um das große ganze Ziel. Natürlich braucht es die Vision (siehe Baustein 1), aber im Alltag benötigt die Führungskraft flexible Möglichkeiten und Wege mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen, aber einer gemeinsamen Haltung zu allen Fragen der Führung und des Umgangs.

In der situativen Führung gehen wir davon aus, dass die Bedürfnisse der Mitarbeitenden unterschiedlich sind. Das situative Führungsverständnis passt sich dem an, analog dem person-zentrierten Ansatz für die Bewohner, trägt den diversen Stärken und Schwächen der Mitarbeiter Rechnung und geht zugleich von unterschiedlichen „Reifegraden“ der MA aus.

Daraus ergeben sich vier Stufen der situativen Führung:

Dirigieren: Die Führungskraft erteilt in der ersten Stufe genaue Anweisungen und kontrolliert die Arbeitsabläufe des Mitarbeiters.

Überzeugen: Der Mitarbeiter trainiert bereits Erlerntes, braucht aber noch Unterstützung.

Teilhaben: Die Kompetenzen des Mitarbeiters sind ausgeprägter, allerdings bedarf es der Motivation, eigene Entscheidungen zu treffen.

Delegieren: Wenn Kompetenz und Motivation des Mitarbeiters hoch genug sind, kann die Führungskraft Aufgaben und Verantwortung abgeben.

Sie können also als Führungskraft nicht mehr pauschal Ziele, Aufgaben und Mitarbeitende „managen“, sondern sind gefragt mit einer person-zentrieten Haltung individuell nach Person und Talent in Verbindung mit der Situation zu führen. Das wiederum fordert eine sehr hohe soziale Kompetenz neben alle vorhandenen Führungskompetenzen ein.

Und was bedeutet das für MmD?

Die neun türöffnenden Handlungsempfehlungen nach Kitwood sind nach wie vor aktuell und bieten für Einrichtungen, Führungskräfte und Mitarbeitende eine sehr sinnvolle Orientierung im täglichen Umgang:

  • Akzeptiere den Menschen so, wie er ist
  • Lass dem Menschen seinen eigenen Willen behaupten und seine Gefühle ausdrücken
  • Biete Nähe und Wertschätzung
  • Gib dem Menschen die Möglichkeiten Selbstachtung zu erleben
  • Fördere seine sozialen Kontakte
  • Biete dem Menschen die Möglichkeit vertrauter Beschäftigung und sein Leben normal zu gestalten (Vertrautheit durch Normalität)
  • Stimuliere seine Sinne, lass ihn genießen und sich entspannen
  • Arbeite mit Humor
  • Schaffe eine sichere und fördernde Umgebung

Fazit

Eine gute Möglichkeit der Anwendung und Überprüfung der aktuellen Situation von und mit MmD ist die regelmäßige Fallberatung in der die Verstehenshypothese eingesetzt werden kann. Die drei Kernfragen “Was fühlt der Bewohner in dieser Situation?“, „Wie nimmt er sich in dieser Situation wahr, wie nimmt er seine Umwelt wahr?“ und „Was kompensiert der Betroffene möglicherweise mit seinem Verhalten?“ leiten uns direkt auf seine Gefühle und damit seine Bedürfnisse.

Wir können unser Handeln, unser Führungsverständnis in einem kleinen aber sehr effektiven Check-Up überprüfen. Die vier globalen Kategorien des Wohlbefindens nach Kitwood geben uns die Richtung, ob wir im Sinne unserer Haltung Führen und Leiten.

Haben wir mit unserer Art des Führens den uns anvertrauten Menschen und Mitarbeitenden

  • … einen besonderen Wert gegeben?
  • … die Möglichkeit etwas zu tun/zu schaffen gegeben?
  • … die Möglichkeit geschaffen, mit anderen in Kontakt zu treten, Kommunikation auszuüben?
  • … eine Situation geschaffen, die ein (Ur)-Vertrauen auslösen kann?

Lassen Sie sich nicht entmutigen von schlechter Stimmung und sehr ungünstigen Rahmenbedingungen. Sie müssen nicht sofort die großen Schritte tun. Ein kleiner Haltungsschritt kann viel bewirken, bei Ihnen, Ihren Mitarbeitenden und bei den Bewohnern!

[1] Quelle: Fredmund Malik – „Führen, leisten, leben – Wirksames Management für eine neue Zeit“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000

Kurzinfo

Rüdiger Jezewski - Foto: privat-min

Rüdiger Jezewski – Foto: privat-min

Rüdiger Jezewski

  • Seit 2019 Mitglied im Verein: Deutsche Expertengruppe Dementenbetreuung e. V.
  • Seit 2020 tätig im Diakoniewerk Weltersbach, zuständig für Organisation & Entwicklung
    Kontakt Diakoniewerk Weltersbach: 02174-730710, Mail: jezewski@weltersbach.org
  • Seit 2021 freiberufliche Tätigkeit mit Minotauros- systemische Organisationsberatung in Gesundheit, Pflege & Demenz

Kontakt Minotauros: 01773284170, Mail: jezewski@minotauros-beratung.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2022 zu finden.

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