von Bettina M. Jasper
Gymnastik, Tanzen im Sitzen, Sturzprophylaxe, Gedächtnistraining, Backen, Singen … all diese und viele weitere Angebote gehören zum wöchentlichen Standardprogramm der meisten Pflegeeinrichtungen. Und das ist gut so! Landauf landab sorgen Scharen motivierter Betreuungskräfte und Alltagsbegleiter*innen dafür, dass alte Menschen Auswahl finden, um ihren Tag aktiv zu gestalten. Solche Programme richten sich in der Regel an Gruppen, auch um soziale Kontakte zu ermöglichen.
Individualität bewahren
Neben all diesen regelmäßigen Gruppenaktivitäten, den Festen und Sonderveranstaltungen, sollte jedoch in jeder Einrichtung die Individualität im Fokus der sozialen Betreuung stehen. Bei geschickter Planung und Koordination ist es möglich, jedem Bewohner und jeder Bewohnerin in einer stationären Einrichtung zusätzlich jeden Tag ein paar kurze Minuten ganz individuelle Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist nicht nur ein Stück Wertschätzung, sondern ermöglicht außerdem, Menschen gezielt zu fördern. Es kommt Vielen weniger auf die Dauer der Zuwendung an, als auf das persönliche Interesse, zumal die Lebenssituation pflegebedürftiger alter Menschen häufig zu verändertem Zeitempfinden führt. Ähnlich wie bei einem guten Essen, kommt es nicht immer auf die Menge, sondern vor allem auf die Gestaltung und das Berücksichtigen der Vorlieben an.
Fünf Minuten am Tag
Klar, das ist nur eine Modellrechnung, aber an normalen Tagen mit voller personeller Besetzung kann die Planung für alle Bewohner ein paar Minuten vorsehen. In stationären und teilstationären Einrichtungen mit einer Betreuungsrelation von 1 : 20 teilen sich oft zwei zusätzliche Betreuungskräfte in Teilzeit die Aufgaben. Angenommen, jede arbeitet vier Stunden am Tag, so sind das zweimal 240 Minuten. Bei entsprechender Koordination kann dann eine der beiden Mitarbeiter*innen aus der sozialen Betreuung sich den Gruppen-, die andere den Einzelaktivierungen widmen, möglicherweise im wöchentlichen Wechsel.
Sollen auf einem Wohnbereich 25 Personen ein tägliches Aktivierungshäppchen von fünf Minuten erhalten, so sind rechnerisch 125 Minuten dafür zu veranschlagen. Natürlich wird Zeit benötigt, um die Betreffenden an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort – im Zimmer, im Wohnraum, im Garten … – aufzusuchen. Außerdem gilt es, sich mit den Kolleg*innen aus der Pflege abzustimmen, Material vorzubereiten, die Dokumentation zu erledigen usw. Doch dafür bleiben noch 115 Minuten, also fast zwei komplette Zeitstunden.
Ressourcen ermitteln, Ziele abstimmen
Bis alles nach dieser Modellrechnung funktionieren kann, ist allerdings Vorarbeit nötig. Es gilt, für die Betreffenden jeweils ein genaues Assessment zu erstellen, damit anschließend wirklich zielgerichtet gearbeitet werden kann. Dabei sollten die Wünsche jedes alten Menschen im Mittelpunkt stehen, wenn die Schwerpunkte festgelegt werden.
So möchte vielleicht die eine Bewohnerin einfach ihre motorischen Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand erhalten. Ein anderer Betroffener will unbedingt ohne Hilfe vom Stuhl aufstehen, jemand Drittes sich ein Glas Wasser eingießen können. Im kognitiven Bereich gibt es ebenfalls unterschiedliche Ziele – Vorhandenes erhalten oder Wortfindung verbessern, Kapazität des Arbeitsgedächtnisses steigern, räumliche Orientierung optimieren etc.
Um auf solche Ziele hinarbeiten zu können, müssen die Ressourcen geklärt werden.
Im Bereich der Motorik können dazu Informationen gehören, wie:
- Ausgangsposition, z. B. gehend, frei stehend, stehend mit Haltemöglichkeit, sitzend im Stuhl mit/ohne Armlehnen, Rollstuhl, Pflegesessel, Bett
- Aktionsradius, z. B. eigenes Zimmer, Wohnbereich, gesamtes Gebäude, Außenanlagen …
- Hilfsmittel, z. B. Gehstock, Rollator, Rollstuhl
- Unterstützungsbedarf, z. B. eine Person/Fachkraft … zur Begleitung/Beobachtung/Anleitung
Ähnlich ist das Vorgehen für die Kognition empfehlenswert. Da sind Fragen interessant, wie:
- Wahrnehmung in allen Bereichen, Sehen, Hören, Tasten
- Lesen und Leseverständnis, z. B. komplette Texte, einzelne Sätze, Wörter, Buchstaben
- Zahlenverständnis und Rechenfähigkeit im Zahlenraum bis X
- Schreiben, z. B. komplette Texte, kurze Sätze, Wörter … mit/ohne Unterstützung, mit/ohne Hilfsmittel
- Farben erkennen, sortieren, benennen
- Uhrlesen
Diese Auflistung lässt sich weiter fortsetzen und konkretisieren. Daneben sind spezielle Lebensthemen und Interessen wichtig, um Ansatzpunkte für die Aktivitäten zu finden.
Kurze Sequenzen, wiederkehrendes Schema
Zu Beginn ist es für alle Beteiligten eine Herausforderung, die Begegnungen kurz zu halten. Doch ist erst einmal klar, dass es morgen wieder ein Aktivierungshäppchen gibt, fällt das Loslassen weniger schwer. Die fünf Minuten haben dann immer einen ähnlichen Aufbau, z. B.
- Begrüßung zum Einfinden in Situation oder Thema. Das kann auch das kurze Anspielen eines Musiktitels, ein Sprichwort oder eine Redewendung sein.
- Bei Material- bzw. Geräteeinsatz vertraut werden mit dem Equipment, z. B. betasten, beschreiben, experimentieren
- Konkrete Bewegungs- und/oder Denkaufgabe
- Verabschiedung mit Ausblick auf den nächsten Tag
Beispiel für einen Fußball-Fan
Die betreffende Person möchte ohne speziellen Schwerpunkt allgemein vorhandene motorische und kognitive Ressourcen erhalten.
- „Guten Morgen, Herr/Frau X, haben Sie gestern im Fernsehen das Spiel … gesehen?“ „Für unser Training habe ich einen Ball mitgebracht.“
- Ball kneten, betasten, beschreiben lassen (Farbe, Größe, Oberfläche, Gewicht).
- Je nach individuellen Fähigkeiten kurz als Partnerübung werfen und fangen, rollen oder kicken.
- Kopierten Zeitungsausschnitt mit Spielergebnissen zeigen. Mit farbigem Stift alle Spiele markieren lassen, bei denen mehr als zwei Tore gefallen sind.
Drei (vier, fünf) Vereine oder Spielernamen nennen und sofort anschließend wiederholen lassen. - Verabschieden mit Aufgabe für den nächsten Tag: Zehn Begriffe rund um den Fußball aufschreiben, z. B. Spielfeld, Tor, Schiedsrichter
Kurzinfo
Dipl. Sozialpädagogin
Bettina M. Jasper
Auf der Golz 2
D-77887 Sasbachwalden
Tel. +49-(0)7841-28109
Bettina.Jasper@denk-werkstatt.com
www.denk-werkstatt.com
Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2020 zu finden.