Der QCare Qualitätsatlas Pflege: regionale Qualitätstransparenz bei Pflegeheimbewohnenden am Beispiel des dauerhaften Einsatzes von Beruhigungs- und Schlafmitteln.
von Susann Behrendt (Mitarbeiterin im Wissenschaftlichen Institut der AOK – WIdO)
Von den knapp 5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland lebten 16 % im Jahr 2021 in Einrichtungen der sog. vollstationären Dauerpflege. Dass es an ganz unterschiedlichen Stellen einer Optimierung der Versorgungsqualität bei Pflegeheimbewohnenden bedarf, scheint klar. Grundvoraussetzung hierfür: die Transparenz und Awareness über das Versorgungsgeschehen bei den Beteiligten auf mehreren Ebenen. Der Qualitätsatlas Pflege setzt hier an.
QCare Indikatoren zu Prävention, kritischer Arzneimittelversorgung und vermeidbaren Krankenhausaufenthalten
Der Qualitätsatlas Pflege erfasst kritische Ereignisse in der pflegerischen und ärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnenden (60+) in Deutschland und macht die Ergebnisse regional vergleichbar. Er betrachtet drei Schnittstellen zwischen Pflege und Gesundheit: Fehlende Prävention und Prophylaxe, kritische Arzneimitteleinsätze sowie potenziell vermeidbare Krankenhausaufenthalte. Das Werkzeug für diese Ergebnisse sind die wissenschaftlich entwickelten „QCare – Qualitätsindikatoren für die Pflege“, vereinfacht gesagt: Kennzahlen, welche die Versorgung von Pflegeheimbewohnenden als gemeinschaftliche Prozesse von vor allem Pflegepersonal und Ärzten begreifen und relevante kritische Ereignisse messen. So zeigt der Qualitätsatlas Pflege für jeden einzelnen Kreis bzw. kreisfreie Stadt, wie viele Pflegeheimbewohnende mit Demenz aufgrund einer Dehydration ins Krankenhaus müssen, wie viele Bewohnende dauerhaft Schlaf- und Beruhigungsmittel erhalten oder auch wie viele Menschen in den Pflegeheimen der jeweiligen Region kurz bevor sie versterben noch in ein Krankenhaus kommen.
Alle QCare Indikatoren basieren in ihrer Berechnung auf Routinedaten, d. h. auf Abrechnungsdaten der AOK-Kranken- und Pflegekassen, z. B. über medizinische Untersuchungen oder Verordnungen von Medikamenten. Folglich beziehen sich die Ergebnisse ausschließlich auf AOK-versicherte Pflegeheimbewohnende. Im Jahr 2021 waren dies mit 360.000 Bewohnenden in vollstationärer Dauerpflege knapp die Hälfte der Pflegeheimbewohnenden (60+) in Deutschland gemäß Pflegestatistik (Stichtag: 31.12.2021).
Große Schwankungen beim dauerhaften Einsatz von Schlaf- und Beruhigungsmitteln
Die Tabelle listet alle zehn QCare Indikatoren des Qualitätsatlas Pflege und zeigt: Pflegeheimbewohnende haben ein unterschiedlich hohes Risiko für potenziell kritische Versorgungsereignisse – je nachdem, wo sie wohnen. Am Beispiel zur Dauerverordnung von Beruhigungs- und Schlafmitteln: während in einem Viertel aller Kreise im Jahr 2021 maximal 4,7 % der Pflegeheimbewohnenden dauerhaft diese Medikation (konkret: Benzodiazepine, -derivate und Z-Wirkstoffe) erhalten, betrifft das in einem weiteren Viertel aller Kreise mindestens jede zehnte pflegebedürftige Person im Pflegeheim. Dabei ist bekannt, dass bei einer Einnahme dieser Substanzen über Monate oder Jahre mit körperlichen, psychiatrischen, neuropsychologischen und kognitiven Beeinträchtigungen zu rechnen ist. Die Sturzgefahr und vor allem das Abhängigkeitspotential sind weitere zentrale Aspekte, die einer Dauereinnahme widersprechen. Zudem gibt es wirksame Möglichkeiten, eine (Langzeit-) Verschreibung dieser Wirkstoffe zu vermeiden, zu beenden bzw. zu reduzieren (insbesondere medikamentöse Alternativen, feste gerontologisch geschulte ärztliche Ansprechpersonen, Sensibilisierung aller Beteiligten und Medikamentenprüfungen). Wichtig: In die Analyse gehen nur Verordnungen zu Lasten der Krankenkasse ein, nicht jedoch Privatrezepte.
Pflegeheimbewohnende je Kreis, in % | Bundesdurchschnitt aller Kreise | Bestes Viertel der Kreise mit weniger als | Schlechtestes Viertel der Kreise mit mehr als |
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Fehlende Prophylaxe und Prävention: | |||
Unzureichende Flüssigkeitszufuhr bei Demenz | 3,8 | 2,7 | 4,9 |
Auftreten von Dekubitus | 11,4 | 9,9 | 12,7 |
Fehlende augenärztliche Vorsorge bei Diabetes | 80,4 | 80,2 | 85,7 |
Kritische Arzneimittelversorgung: | |||
Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz | 9,5 | 7,9 | 11,5 |
Dauerverordnung von Beruhigungs- und Schlafmitteln | 7,6 | 4,7 | 9,9 |
Kombination von neun oder mehr Wirkstoffen | 32,7 | 30,0 | 36,8% |
Einsatz von für Ältere ungeeigneter Medikation | 21,9 | 18,9 | 25,1 |
Vermeidbare Krankenhausaufenthalte: | |||
Krankenhausaufenthalte am Lebensende | 42,0 | 38,1 | 47,1 |
Kurze Krankenhausaufenthalte | 16,3 | 14,4 | 19,1 |
Sturzbedingte Krankenhausaufenthalte | 16,1 | 14,4 | 18,2 |
Tabelle: Qualitätsatlas Pflege – kritische Ereignisse an den Schnittstellen der Versorgung von Pflegeheimbewohnenden (nicht adjustiert, 2021) – Quelle: eigene Darstellung © WIdO 2024
Die Kartografierung der Ergebnisse zum Dauereinsatz von Beruhigungs- und Schlafmitteln zeigt ein sehr heterogenes Bild mit einer Spanne von 0,75 % bis 25 % aller Pflegeheimbewohnenden je Kreis. Überproportional hohe Verordnungsraten finden sich insbesondere im Saarland und Nordrhein-Westfalen (. Demgegenüber sind die Kreise im Osten Deutschlands deutlich unterproportional betroffen. Auch eine Berücksichtigung des unterschiedlichen regionalen Profils der Pflegeheimbewohnenden (bspw. Altersstruktur, Pflegegrad oder auch Vorliegen weiterer Erkrankungen) als Grundvoraussetzung für faire regionale Vergleiche ändert wenig daran, welche Regionen hier auffällig sind und welche nicht (https://www.qualitaetsatlas-pflege.de/dauerverordnung-von-schlafmitteln/kreise/differenz/2021).
Optimierung vor Ort
Der Qualitätsatlas Pflege ist der erste Atlas in Deutschland, der auf einer breiten Routinedatenbasis Kennzahlen über die pflegerische und ärztliche Versorgungssituation in Pflegeheimen auf Kreis- und Bundeslandebene zeigt. Er zielt auf mehr regionale Transparenz über die Versorgung von Pflegeheimbewohnenden, möchte die Aufmerksamkeit für Schnittstellen-Probleme zwischen Pflege und Gesundheitsversorgung erhöhen und Verbesserungen der regionalen Strukturen und Rahmenbedingungen anstoßen. Die konkreten Ursachen für regionale Auffälligkeiten können letztlich jedoch nur in den Einrichtungen vor Ort eruiert werden.
Alle QCare Indikatoren lassen sich auch für jede Einrichtung einzeln berechnen. Die Informationen stehen jedoch bis dato weder dem Pflegeheim und den Leistungserbringenden noch den Betroffenen oder auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Ab April 2024 startet deswegen ein großes vom Innovationsfonds gefördertes Forschungsvorhaben namens QCare Transfer, durchgeführt vom WIdO zusammen mit dem aQua-Institut, der Medizinischen Hochschule Brandenburg sowie der AOK Bayern. Es geht um die Pilotierung der QCare Indikatoren vor Ort in den Einrichtungen und bei den behandelnden Ärzten – und um die Frage: Wie kann Versorgungstransparenz zur Versorgungsverbesserung beitragen? Im Zentrum stehen die Bewohnenden im Pflegeheim, gefragt sind alle Beteiligten.
Weitere Informationen:
· Qualitätsatlas Pflege: www.qualitaetsatlas-pflege.de
· QCare – Routinedatenbasierte Qualitätsindikatoren für die Pflege: https://mailhost.wido.de/forschung-projekte/pflege/qcare-routinedatenbasierte-qualitaetsindikatoren-fuer-die-pflege/?L=0
Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2024 zu finden.