Therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen: Vorbild auch für andere Einrichtungen

von Oskar Dierbach (geschäftsführender Pflegedienstleiter)

Der Einzug in ein Pflegeheim gilt für viele als Endstation. Das es auch anders geht, zeigt die Evangelische Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr seit etlichen Jahren.
Hier wurde das Konzept der „therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen“ entwickelt. Dabei war die Erfahrung entscheidend, dass auch bei hochaltrigen Menschen oftmals noch Ressourcen vorhanden sind, die mit interdisziplinären Teams, intensiver therapeutischer Arbeit und darauf abgestimmter Pflege aktiviert werden können.
Konkret bedeutet das für Menschen, die z. B. nach einem Krankenhausaufenthalt in das Pflegeheim einziehen, dass etliche von ihnen nach einer gewissen Zeit – mehrere Wochen oder einige Monate – wieder zurück in die eigene Häuslichkeit ziehen können. Aber auch die Bewohner, die aufgrund dauerhafter körperlicher Einschränkungen oder gerontopsychiatrischer Veränderungen in den Häusern der Ev. Altenhilfe bleiben, erleben eine höhere Lebensqualität und ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung.

Integriertes Gesamtkonzept durch Kooperation aller Professionen im Pflegeheim

Gelingen kann ein solches Konzept nur, wenn alle Beteiligten zusammenarbeiten. Dabei muss immer der Bewohner im Mittelpunkt stehen: Wie können Motivation und Lebensmut geweckt werden, um einen therapeutischen Prozess zu ermöglichen? Welche Perspektive kann einem Menschen gegeben werden, der den Einzug ins Pflegeheim als deprimierend und endgültig erlebt? Hier setzt das Konzept der Ev. Altenhilfe an.

Ein interdisziplinäres Eingangskonsil analysiert nach dem Einzug medizinische Vorgeschichte und momentane Situation des Betroffenen. Hier arbeiten Arzt, Neurologe, Apotheker, Pflegedienstleiter, Pflegefachkraft und Physiotherapeut auf Augenhöhe zusammen und entwickeln ein individuelles Pflege- und Therapiekonzept. Durch fortwährende Evaluation wird dieses Konzept laufend angepasst.

Die Pflegekräfte bauen im Rahmen der Bezugspflege ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Bewohnern auf. Sie finden „Schlüssel“ zur Motivation für therapeutisches Handeln, führen Gespräche und bieten mentale Unterstützung. Außerdem fördern sie den rehabilitativen Prozess durch die Integration therapeutischer Elemente in die tägliche Pflege. Dieses hohe Engagement der Pflegefachkräfte ist nur möglich, weil in den Häusern mehr Personal eingesetzt wird als in vergleichbaren Häusern.

Das therapeutische Angebot in der Ev. Altenhilfe Mülheim ist außergewöhnlich vielseitig: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Rollatortraining, Motopädie, Musikgeragogik, Kunstangebot etc. Die therapeutischen Angebote werden zum großen Teil vom Förderverein der Einrichtung finanziert, nur ein kleiner Teil wird über Verordnungen abgerechnet. Dadurch besteht die Möglichkeit, individuelles Einzeltraining für jeden Bewohner – in vielen Fällen täglich – anzubieten. Ergänzt werden die Therapien durch ein durchdachtes Raumkonzept, das mit Räumen für Bewegungstherapie, lichttherapeutischen Decken, einer geschützten Gartenanlage sowie großzügigen Terrassen viele Möglichkeiten zur aktivierenden Bewegung schafft.

Auch volkswirtschaftlich ist das Konzept ein Gewinn

In der Bewegungstherapie, genannt Muckibude, werden Muskulatur und körperliche Fähigkeiten trainiert. - Foto: Walter Schernstein

In der Bewegungstherapie, genannt Muckibude, werden
Muskulatur und körperliche Fähigkeiten trainiert. – Foto: Walter Schernstein

In der Ev. Altenhilfe werden medizinische Behandlung, Rehabilitation und Pflege zusammengedacht, immer mit dem Ziel, für die Betroffenen den besten Weg zu mehr Lebenszufriedenheit und Selbstbestimmung zu finden. Die Vorteile für die Bewohner liegen auf der Hand, aber dass dieses Projekt sich sogar positiv auf die Kostenstruktur der Einrichtung auswirkt, ist durchaus überraschend.

Das Ergebnis einer Untersuchung der AOK Rheinland/Hamburg kam auch für die Fachleute unerwartet: Die Kosten pro Heimbewohner liegen in der Ev. Altenhilfe signifikant unter den Kosten in anderen Einrichtungen. Wesentlich weniger Krankenhausaufenthalte, geringere Arzneimittel- und Heilmittelkosten bedeuten für die Krankenkasse, dass dieses Modell auch in anderen Einrichtungen sinnvoll sein könnte.

In einem gemeinsamen Projekt von AOK Rheinland/Hamburg, Universität Potsdam, Deutscher Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie und Ev. Altenhilfe Mülheim soll nun das Konzept der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen auf andere Einrichtungen übertragen werden. Die erste Hürde, die Bewerbung beim Innovationsfonds des G-BA, hat das Projekt Anfang 2021 erfolgreich genommen. Nun geht es in die entscheidende Phase, um das Projekt noch intensiver zu evaluieren und in die Fläche zu bringen. Weitere Einrichtungen, die Elemente des Konzeptes übernehmen möchten, sind bereits gefunden. Fachliche Beratung und Begleitung, Schulung des vorhandenen Personals und Personalakquise z. B. im therapeutischen Bereich sollen das positive Beispiel aus Mülheim in anderen Häusern zur Anwendung bringen.

Therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen – Ein Fallbeispiel:

Kleinschrittige Ergotherapie fördert Alltagsfähigkeiten für ein selbstbestimmteres Leben - Foto: Walter Schernstein

Kleinschrittige Ergotherapie fördert Alltagsfähigkeiten für ein selbstbestimmteres Leben - Foto: Walter Schernstein

Kleinschrittige Ergotherapie fördert Alltagsfähigkeiten für ein selbstbestimmteres Leben – Foto: Walter Schernstein

Frau F. zieht in die Ev. Altenhilfe Mülheim, nach einem Schlaganfall ist sie stark beeinträchtigt. Das Eingangskonsil entwickelt Perspektiven für therapeutische Maßnahmen, medikamentöse Behandlung und fördernde Alltagsgestaltung. Der gesamte Tagesablauf von Frau F. wird darauf eingestellt, die beeinträchtigte Körperhälfte zu trainieren, auch die räumlichen Verhältnisse werden entsprechend vorbereitet. Das Bezugspflegeteam baut ein Vertrauensverhältnis auf und integriert therapeutische Impulse in den Pflegeablauf. Das tägliche Mobilitätstraining (Physiotherapie, Ergotherapie, Motopädie) wird so gestaltet, dass kleinschrittige Erfolge erfahrbar sind und so die Motivation gesteigert wird. Eine Logopädin kommt ins Pflegeheim, arbeitet mit Frau F. und gibt den Pflegekräften wertvolle Tipps für ihr Handeln.

Nach drei Monaten kann Frau F. mit Hilfe aus dem Rollstuhl aufstehen, hat einen sicheren Stand auf dem linken Bein und kann mit Unterstützung einige Schritte gehen. Sie kann ihren rechten Arm nicht mehr voll funktionsfähig einsetzen, er ist aber mit Unterstützung des linken Armes voll beweglich. Sie nimmt mit Freude an Gruppenaktivitäten, dem sozialen Leben im Wohnbereich sowie an allen Festen teil. Ihre Sprachfähigkeit bleibt eingeschränkt, konnte jedoch deutlich verbessert werden. Insgesamt kann sie ihren Alltag viel eigenständiger und selbstbestimmter gestalten, als bei der Aufnahme zu erwarten war. Ihre Perspektive bleibt, nach weiteren Monaten zu ihrem Ehemann nach Hause zurückzukehren.

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2021 zu finden.

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