Von Ronja Gysin, freie Journalistin

Generationenübergreifende Projekte sind für alle Seiten ein Gewinn. Diese Erfahrung machten auch Schülerinnen des Kemptener Carl-von-Linde-Gymnasiums mit Bewohnern des Seniorenwohnheims im Hoefelmayrpark.

Herzlicher Austausch und spannende Lebensgeschichten

Gebannt hört Annika zu, wie Rosa Maria Lauber aus ihrem Leben erzählt. Am 19. Juni 1929 kam sie als älteste von fünf Geschwistern in der Nähe von Breslau in Schlesien zur Welt. Zunächst erlebte sie eine ganz normale Kindheit, ging zur Schule, verbrachte viel Zeit bei den Großeltern, lernte Ski- und Fahrradfahren. Doch bald waren diese beschaulichen Jahre vorbei. Während der Zeit der Hitlerjugend war sie in einer geheimen Jugendgruppe, die als Religionsunterricht getarnt war. Der starke Zusammenhalt hält bis heute an. Die verbliebenen Mitglieder treffen sich immer noch. Als es in Schlesien 1945 zu gefährlich wurde, floh die Familie in Richtung Westen und kam nach einer sechstägigen Zugreise in Dresden an, das kurz danach in Flammen aufging.

Laubers Geschichte ist eine von zwölf, der 13 Schülerinnen im Rahmen eines Begegnungsprojekts im P-Seminar Ethik lauschen durften. Anfang des Jahres hatten die Elftklässlerinnen das Haus, das von der Sozial-Servicegesellschaft des BRK geführt wird, zum ersten Mal besucht. Die Mädchen hatten die Aufgabe, Seniorinnen und Senioren zu interviewen und aus ihren Rechercheergebnissen eine Biografie zu schreiben. „Der Kontakt zwischen Jung und Alt war sofort warmherzig und offen“, erzählt Karin Schöffel, die als Hausdame auch für die soziale Betreuung im Bereich Betreutes Wohnen zuständig ist. Schon im Vorfeld hatte sie mit den Bewohnern abgesprochen, ob sie zu Gesprächen über ihren Lebensweg bereit wären. Steckbriefe der Interviewerinnen bilden den zweiten Teil der Texte.

Auch die Geschichte von Hanna Kunz liest sich wie eine spannende Chronik des letzten Jahrhunderts. 1931 im Erzgebirge, also in der damaligen DDR, geboren, arbeitete sie zuerst bei einem Bauern, später als Feinmechanikerin. Nur nach der Geburt ihrer Tochter genehmigte sich die Powerfrau eine Pause. In den Westen kam sie 1987 das erste Mal durch eine Sondergenehmigung für einen Besuch in Würzburg. Kunz lebt seit 2011 im Hoefelmayrpark. Ihre Tandempartnerin Sofia schreibt eifrig mit und stellt immer wieder Fragen. Alt und Jung sind in eine angeregte Unterhaltung vertieft.

Jung und Alt hörten sich zu – 
ein Gewinn für beide Seiten

Viele solcher Paare haben sich durch das Projekt gefunden. Mitunter waren die Beteiligten selbst über die Tiefe der Gespräche überrascht. Die Mädchen bekamen einen Einblick in eine – vielleicht doch nicht so – weit entfernte Zeit. Und nicht nur das: Vor allem lernten beide Seiten, dass trotz großem Altersunterschied Nähe entstehen kann. „Viele unserer Bewohner hatten nicht erwartet, dass sich die Mädchen für ihre Erfahrungen interessieren“, weiß Schöffel. Umso größer ist die Erzählfreude, etwa als Bewohner Max Gehring erwähnt, dass er das Carl-von-Linde-Gymnasium selbst besucht hat. Schülerin Elena ist baff und löchert den Senior mit Fragen über die damaligen Abläufe. Gehring, ebenfalls 1931 geboren, wuchs auf einem Hof in Unterjoch, einem kleinen Dorf im Allgäu, auf. Doch schon in der Volksschule erkannten die Lehrer seine Begabung und rieten den Eltern dringend, ihn in Kempten auf das Gymnasium zu schicken. Also lebte er fortan in einem Schülerheim. Lieblingsfächer: Latein und Geschichte. „Mobbing kannten wir damals nicht, weil es unter den Schülern einen Ehrenkodex gab, der ein solches Handeln nicht zuließ“, erzählt der lebendige Mittachtziger.

Begegnungsprojekt stößt auf große Resonanz

Ein Dutzend spannender Lebensbilder sind das Ergebnis des „Erzähl doch mal“-Projektes, das in manchen der 26 bayer­ischen SSG-Einrichtungen bereits Nachahmer fand. Der größte Gewinn aber sind bleibende Kontakte zwischen Jugendlichen und Senioren. „Diese Begegnungen waren mir besonders wichtig. Dass daraus auch so interessante Biografien entstanden, ist natürlich eine tolle Sache“, freut sich Ethik-Lehrerin Susann Winkler, die das P-Seminar leitet. Sie möchte ähnliche Projekte in den kommenden Schuljahren weiterführen. „Wir werden künftig immer mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft haben. Es ist daher wichtig, schon in der Schulzeit ein Bewusstsein dafür zu schaffen“, so die Lehrerin. Die Aufzeichnungen sollen bald auch in Buchform erscheinen.

Das gelungene Projekt findet auch außerhalb von Senioreneinrichtung und Schule großen Anklang. Ursula Winkler, die für die Stadt Kempten Museums-Ausstellungen plant, ist sehr interessiert an den Biografien und den Steckbriefen. Sie möchte sie in der Ausstellung “He, Fräulein! Fakten und Bilder zur Frauengeschichte und 100 Jahre Frauenwahlrecht”, gegenüberstellen, die im Juni 2018 im Kornhaus Kempten eröffnet wird.

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