von Marie-Sophie Emde (Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg – Literatur bei der Verfasserin)

Damit Auszubildende auf dem Weg zur Pflegefachkraft all die Kompetenzen entwickeln können, die für eine Pflege, die den zu Pflegenden in den Mittelpunkt stellt, unentbehrlich sind, benötigen sie eine umfassende Begleitung und Unterstützung, besonders durch Praxisanleitende. In diesem Beitrag steht die Vermittlung ethischer Grundelemente im Rahmen der Praxisanleitung am Lernort Praxis im Fokus. Diesem wird in Bezug auf die gelingende Vermittlung dieser Grundelemente ein hoher Stellenwert zugesprochen.

Im Folgenden werden die ethischen Grundelemente für eine patientenorientierte Pflege nach Giovanni Maio dargestellt, die innerhalb des Prozesses der Praxisanleitung forciert werden sollten – auch, um die SuS zu einer ethischen Reflexion zu befähigen, die letztlich zur Steigerung einer professionellen Haltung beiträgt.

Ganzheitliche Betrachtung von zu Pflegenden

Eine ganzheitliche Wahrnehmung, also die Wahrnehmung eines Anderen ohne Vorurteile und mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen und die Anerkennung seiner Einzigartigkeit, ist grundlegend. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die Praxisanleitenden die SuS dahingehend begleiten, sich des Menschen, dem sie sich gegenübersehen, vollends bewusst zu werden.

Es gilt, den zu Pflegenden nicht nur in seiner gegenwärtigen Situation, sondern vor dem Hintergrund seiner gesamten (Lebens-)Geschichte, seines Wirkens und seiner Individualität mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten zu sehen, anzuerkennen und wertzuschätzen. Praxisanleitende verfügen über die Chance, ihren SuS eine real erlebte Beteiligung und ein Bewusstsein für die zu Pflegenden zu ermöglichen, welche unbedingt genutzt werden sollte. Geben Praxisanleitende ihren SuS keine Möglichkeit, in eine Interaktion mit den zu Pflegenden zu treten, unterbinden sie auch die (Weiter-)Entwicklung jeglicher Fertigkeiten, die im Idealfall aus in der Schule theoretisch vermittelten Fähigkeiten erwachsen.

Maio beschreibt die Stiftung leiblicher Integrität als ethisches Ziel. Nicht nur SuS, auch anderen Mitarbeitenden in der Pflege, sollte der Begriff der leiblichen Integrität zunächst erfahrbar gemacht werden. Praxisanleitende sollten deshalb grundlegende Begrifflichkeiten in der Theorie beleuchten, bevor sie in einer realen Situation konkret das thematisieren, was leibliche Integrität erzeugen kann – nämlich ein Eingehen, ein Einfühlen auf bzw. in die Bedürfnisse und Bedarfe des zu Pflegenden, was in einem allgemeinen, seelischen wie körperlichen Wohlbefinden resultieren kann.

Pflege den Menschen, wie du selbst gepflegt werden möchtest

Für SuS ist es zudem bedeutsam, wenn das Verhalten ihrer Berufsvorbilder, z. B. der Praxisanleitenden, mit dem übereinstimmt, was diese ihnen zu vermitteln suchen. Damit zeigen Praxisanleitende Transparenz in ihrem Handeln. Neben der Stiftung leiblicher Integrität ist ein weiteres ethisches Grundelement der bewohnerorientierten Pflege die taktvolle Interaktion.

Um den SuS dieses Grundelement im ersten Schritt zu verdeutlichen, kann zunächst ein Satz thematisiert werden, der der Bibel entstammt. Dort heißt es, dass Jesus zu seinen Jüngern sagt, sie sollen die Menschen so behandeln, wie sie selbst behandelt werden möchten. Dies lässt sich gut auf die grundlegende Interaktion in der Pflege übertragen, da den SuS deutlich werden soll, dass sie sich ihnen gleichberechtigten Individuen gegenübersehen, denen sie Hilfestellung bieten und die sie in ihren Alltagsaktivitäten unterstützen. Gleichsam ist unerlässlich, dass sie sie in ihrer Versehrtheit und Verletzlichkeit vollumfänglich anerkennen, so wie auch sie selbst anerkannt werden möchten.

Es ist möglich, dass SuS bei unzureichender Sensibilisierung durch Praxisanleitende oder fehlerhafte berufliche Sozialisation dazu neigen, den Menschen, der ihre Hilfe benötigt, aufgrund dieser Tatsache als andersartig wahrzunehmen und ihm nicht die taktvolle Interaktion angedeihen lassen, die ethisch (und menschlich) geboten ist. Maio formuliert treffend, dass die Nähe, die in der pflegerischen Interaktion entsteht, sowohl die Chance tiefer persönlicher Erfüllung bietet als auch Gefahren einer irritierenden Überschreitung birgt, weil in diejenigen Bereiche vorgedrungen wird, die der tiefsten Privatheit angehören.

Wenn es gelingt SuS in ihrer Sensibilität und Wahrnehmung zu stärken, sodass sie kleinste Veränderungen der sie umgebenden Personen bemerken, dann kann die Nähe, die sie in der taktvollen Interaktion aufbauen in ihnen selbst eine tiefe, auch geistige, Erfüllung spürbar machen, weil sie es sind, denen der zu Pflegende solch ein Vertrauen entgegenbringt, dass er sich ihnen vollständig offenbart.

Ökonomisierung vs. ethische Grundelemente einer patientenorientierten Pflege?

Nahezu alle Bereiche der Pflege sind durch eine zunehmende Ökonomisierung geprägt, die einer ethisch reflexiven Handlungsfähigkeit im Weg stehen kann. Daraus resultiert zum Beispiel, dass Pflegende nach einem strukturierten Ablaufplan arbeiten, der die situative Kreativität, die nach Maio zu den ethischen Grundelementen einer patienten- bzw. bewohnerorientierten Pflege zählt, vermissen lässt. Diese Kreativität in der Situation ist es aber, die die Pflege ausmacht.

Wenn SuS in ihrem täglichen Umgang mit zu Pflegenden adäquat durch Praxisanleitende begleitet werden, dann ist ein Einwirken darauf, dass nicht „Schema F“ bei allen zu Pflegenden abgespielt wird, unbedingt erforderlich. Hat sich ein fehlerhaftes und weniger situatives Handeln erst gefestigt, ist es auch für Praxisanleitende schwierig, dieses Muster zu brechen und durch ein korrektes Handlungsmuster zu ersetzen. SuS sollten durch ein angeleitetes Lernen in der Praxis erfahren, sich jeden Tag neu auf die Begegnung mit den zu Pflegenden einzulassen und dann über eine passende Handlung und Reaktion zu entscheiden. Letztlich sollten die SuS mit Unterstützung ihrer Praxisanleitenden, feststellen, dass „die Bedachtsamkeit, die Umsicht und das geduldige Zuwartenkönnen […] zu den eigentlichen Leitwerten [ihrer] Pflege [werden sollten].“

Wahrnehmen mit allen Sinnen

Wenn SuS zu Beginn ihrer Ausbildung zum ersten Mal das Zimmer, den privaten Schutzraum, eines Bewohners betreten, dann prasseln in aller Regel viele Eindrücke gleichzeitig auf sie ein.

Es ist notwendig, den SuS gerade zu Beginn ihrer Ausbildung die Chance zu geben, neue Eindrücke wirken zu lassen und zu lernen, was diese eigentlich bedeuten könnten. Dabei geht es nicht allein darum, Eindrücke, Gefühle und Stimmungen innerhalb einer Situation kognitiv zu verarbeiten – es geht vielmehr darum, sie mit allen Sinnen wahrzunehmen. Zunächst wird es SuS vermutlich am ehesten gelingen offensichtliche(re) Stimmungslagen wahrzunehmen, sei es visuell oder akustisch.

Im Verlauf der Ausbildung sollten sie dazu befähigt werden, auch die geistige Dimension zu spüren und in ihre Kommunikation einzubeziehen. Dazu müssen eindrückliche Situationen immer wieder gemeinsam mit Praxisanleitenden reflektiert und ausgiebig besprochen werden – natürlich in Situationen, die SuS die Möglichkeit geben, sich zu öffnen und unter Umständen auch Probleme oder Ängste preiszugeben.

Kompetenzen entfalten sich im Verlauf, sie sind nicht sofort voll ausgeprägt und entwickeln sich stetig weiter, auch nach der Ausbildung. Dementsprechend ist es legitim, dass SuS in das assoziative Erspüren-können „hineinwachsen“. Wichtig ist nur, dass sich alle Sinne dahingehend öffnen, man von starren Vorgehensweisen abweicht und zunächst die gesamte Stimmung im Raum mit all ihren Feinheiten wahrzunehmen versucht. Ein „auf den Bewohner Einschwingen“ erfordert neben einer hohen Sensibilität auch Intuition, die sich im Laufe der Ausbildung entwickeln darf und nicht von Tag eins gegeben sein muss.

Allgegenwärtige Unvorhersehbarkeit

Pflegerische Handlungen wie z. B. das Legen einer subkutan-Infusion oder ein Verbandswechsel können so lang geübt werden, bis sie einwandfrei durchgeführt werden können. Das professionell-pflegerische Handeln umfasst jedoch sehr viel mehr. Es ist geprägt von einem steten Begleiten und der „Beziehungsgestaltung mit vulnerablen Personengruppen, in vielfach reziproken, existenziellen und leiblich geprägten Situationen“.

Die Komplexität dieser Situationen kann mitunter einschüchternd sein und bei unzureichender Vorbereitung, im Sinne ihrer Unvorhersehbarkeit, schnell zu Überforderung bei SuS führen. Auch die beste Praxisanleitung kann nicht verhindern, dass pflegerische Situationen von Unvorhersehbarkeit geprägt sind. Diese ist allgegenwärtig und der adäquate Umgang mit ihr kann ausschließlich durch praktische Erfahrung erzielt werden. Praxisanleitende können entsprechend „nur“ einen Grundstein schaffen, damit SuS sich dieser Unvorhersehbarkeit bewusst werden, ohne von ihr beherrscht zu werden. Wird dieser Grundstein erfolgreich gelegt, dann wird es SuS möglich, zunehmend auch komplexe Situationen zu meistern und den ganzen Handlungshorizont innerhalb einer Situation zu begreifen.

Mit einem umfassenden Begleiten in konkreten Situationen und einer anschließenden ausführlichen Reflexion bereiten Praxisanleitende SuS darauf vor, ein erfahrungsgesättigtes Können zu erwerben, um so nicht nur die theoretischen Fähigkeiten, sondern auch die Fertigkeiten auszubildenden, die sie benötigen, um trotz der Unwägbarkeit einer Situation handlungsfähig zu bleiben. Nur, weil eine Herangehensweise nicht funktioniert oder etwas auftritt, was dieser entgegensteht, heißt das nicht, dass es nicht noch unzählige andere Möglichkeiten gibt, diese Situation zu meistern.
Dass Pflegende im Laufe ihres beruflichen Werdegangs eine Vielzahl an Herangehensweisen in unterschiedlichsten Situationen erproben und sich dieser in der Unmittelbarkeit der Pflege beliebig bedienen können, um den zu Pflegenden in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen und eine auf ihn abgestimmte ethisch wie fachlich eindrucksvolle Pflege zu leisten, das macht eine wahrhaft gute Pflege erst aus.

Foto: lilartsy – Unsplash

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Auf einen Blick

  1. Die Vermittlung ethischer Grundelemente in der Praxisanleitung von Schülern in Langzeitpflegeeinrichtungen ist wichtig, um eine patientenorientierte Pflege zu gewährleisten.
  2. Praxisanleitende sollten die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisieren, eine ganzheitliche Betrachtung der zu Pflegenden zu entwickeln und ihre Einzigartigkeit anzuerkennen.
  3. Ethische Grundelemente wie die leibliche Integrität und taktvolle Interaktion sind wichtig, damit Schülerinnen und Schüler sich eine professionelle Haltung aneignen können.
  4. Die Ökonomisierung der Pflege kann ethische Grundelemente beeinträchtigen, daher ist es wichtig, situative Kreativität und individuelle Betreuung zu fördern.
  5. Schülerinnen und Schüler sollten lernen, mit allen Sinnen wahrzunehmen und sich auf unvorhersehbare Situationen einzustellen, um eine umfassende und ethisch fundierte Pflege zu gewährleisten.

Kurzinfo

Foto: Marie-Sophie Emde

Foto: Marie-Sophie Emde

Marie-Sophie Emde
Altenpflegerin / Bachelor of Arts (B.A.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Stud. Master of Education (M.Ed.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
E-Mail: marie-sophie.emde@gero.uni-heidelberg.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2023 zu finden.

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