von Dr. phil. Stefanie Wiloth (Dipl. Gerontologin, Akademische Rätin, Institut für Gerontologie, Uni Heidelberg, Literatur bei der Verfasserin)

Die Begleitung von Menschen mit Demenz ist Anspruchsvoll. Wenn Pflegefachpersonen Menschen mit Demenz (MmD) begleiten, dann immer mit dem Ziel, deren subjektive Lebensqualität zu wahren. Dabei gilt es, sich stets die Frage zu stellen, wie MmD ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie auf diese reagieren und inwiefern man ihnen die Möglichkeit gibt, diese Umwelt auch selbstbestimmt mitzugestalten. Der Anspruch der Begleitung von MmD ist daher, die Autonomie der Betroffenen zu fördern und sie folglich zur Selbstverwirklichung sowie zur Gestaltung ihrer Erlebens- und Lebenswelt zu befähigen. Dies gelingt vor allem durch eine empathische und wertschätzende Kommunikation – auch und gerade dann, wenn die Betroffenen erhebliche Sprachdefizite aufweisen. Es muss ein sozialer Interaktionsraum aufgebaut werden, in dem durch gegenseitige verbale und nonverbale Stimulierung bzw. Anregung und durch ein Aufeinander-Eingehen bzw. durch das Reagieren auf Signale des Gegenübers eine tiefe emotionale Verbindung zu den Betroffenen hergestellt wird. Gegenseitigkeit ist dabei essenziell, das heißt, dass MmD als gleichberechtigte Kommunikationspartner angesehen werden und genauso viel Raum erhalten, zuzuhören und sprachlich oder mittels Mimik, Gestik und Körperhaltung zu antworten. Nur dadurch kann eine Atmosphäre des Vertrauens, des Respekts und auch der Zusammenarbeit geschaffen werden, wodurch die Wahrnehmung und Realisierung der Bedürfnisse von MmD nach Identität, Trost, Sicherheit, Beschäftigung und Bezogenheit überhaupt erst möglich wird.

Einen solchen sozialen Interaktionsraum aufzubauen, erfordert viel Fachwissen und praktische Erfahrung. Doch die durch Wissen und langjährige Berufserfahrung gewonnene Pflegekompetenz ist kein Garant dafür, dass diese im Pflegealltag auch tatsächlich realisiert wird. Zu wissen, wie man wertschätzend und empathisch mit MmD kommuniziert, bedeutet noch nicht, dies auch zu tun.

Der Einfluss arbeitsökonomischer Routinen auf die Pflegekompetenz

Im Kontext der Ökonomisierung der Pflege, charakterisiert durch Kostenreduktion bei gleichzeitig geforderter Effizienzsteigerung und damit einhergehender Leistungsorientierung sowie einem hohen Dokumentations- und Kontrollaufwand, eignen sich Pflegende arbeitsökonomische Routinen an. Diese helfen ihnen, trotz mangelnder Personal- und Zeitressourcen mit den vielfältigen Anforderungen besser umzugehen.

Allerdings können Arbeitsroutinen gerade in der Begleitung von MmD die Gestaltung sozialer Interaktionsräume behindern. Sie können zu einer begrenzten Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an herausfordernde Situationen führen. Selbst sehr erfahrene Pflegefachpersonen sind dann kaum in der Lage, sich auf die individuelle Bedarfslage der Betroffenen auszurichten bzw. die Bedürfnisäußerungen wahrzunehmen und adäquat darauf zu reagieren. Vielmehr stellt sich eine sogenannte „maligne Sozialpsychologie“ ein. Darunter versteht Kitwood gesprächshemmende Kommunikationsmuster wie Infantilisieren, Stigmatisieren, Etikettieren, Entwerten, Ignorieren, Herabwürdigen oder gar Zwang, die zwar nicht bewusst geplant sind, aber dennoch eine personzentrierte Begleitung erschweren und damit ethisches Pflegehandeln deutlich einschränken. Aufgrund des hohen Stressniveaus nehmen Pflegende eine sich durch arbeitsökonomische Routinen einstellende maligne Sozialpsychologie im Umgang mit MmD gar nicht wahr und können die negativen Kommunikationsmuster somit auch nicht ablegen.

Nur durch Selbstreflexion, also durch die gezielte Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem eigenen Denken und Handeln, können Pflegende die negativen Verhaltensweisen erkennen und aus diesen Routinen heraustreten. Allerdings setzt sich Selbstreflexion häufig nicht von alleine in Gang, sondern eine gezielte Stimulierung wird notwendig.

Das Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz

H.I.L.DE.-QS[1] ist ein „Peer Review“-Verfahren, bei dem „Peers“, also Kollegen, auf der Grundlage von Ergebnissen der Verhaltensbewertung anderen Kollegen konstruktives Feedback geben. Mit H.I.L.DE.-QS wird die Interaktion zwischen einer Pflegefachperson und MmD während der Morgenpflege beobachtet und bewertet. Der Beobachter dokumentiert Verhaltensweisen der Pflegefachperson und die emotionalen Reaktionen des Bewohners auf diese Verhaltensweisen sowie die Bedürfnisäußerungen durch Gestik, Mimik und Körperhaltung (Abbildung 1).

Die Grafik zeigt eine emotionale Verlaufskurve, bei der verschiedene beobachtete Emotionen von Unsicherheit über Entspannung bis hin zu Missbefinden und Angst dargestellt sind. Dabei sind auslösende Faktoren, wie Berührungen, nicht vorgestellte fremde Personen oder unangekündigtes Kämmen der Haare, als mögliche Ursachen für emotionale Veränderungen genannt.Die Kurve visualisiert, wie bestimmte Ereignisse oder Handlungen den emotionalen Zustand einer Person beeinflussen können.

Abbildung 1: Beobachtungsschema in H.I.L.DE.-QS zur Erfassung der Interaktionsqualität zwischen Menschen mit Demenz und Pflegefachpersonen

Nach der Beobachtung der Pflegesituation treten der Beobachter und die Pflegefachperson in ein Feedbackgespräch. Hierfür stellt H.I.L.DE.-QS vorformulierte Leitfragen bereit. Das Feedbackgespräch erfasst zunächst die Einschätzung der Pflegefachperson bezüglich ihres Verhaltens gegenüber dem Bewohner. Anschließend wird eine fundierte Rückmeldung zu den beobachteten Verhaltensweisen und den in der Pflegesituation auftretenden Emotionen des Bewohners mit Demenz gegeben. Der Austausch hilft, dass Pflegefachpersonen durch die Rückmeldung ihr Pflegehandeln besser verstehen. Die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen erwünschtem und tatsächlich gezeigtem Verhalten kann ermutigen, Routinen zu durchbrechen und das eigene Verhalten anzupassen.

Von 2017 bis 2019 wurde das Instrument in 21 Pflegeeinrichtungen bei insgesamt 79 Menschen mit Demenz wissenschaftlich begleitet. Dabei wurde u. a. die Wirksamkeit auf das Wohlbefinden der Bewohner sowie auf das Pflegehandeln analysiert. Die Ergebnisse weisen deutlich darauf hin, dass das Feedbackgespräch zu einer Selbstreflexion der Verhaltensweisen, Handlungen sowie der gesamten Pflegesituation seitens der Pflegenden geführt hat. Nach dem Feedbackgespräch bei wiederholter Anwendung von H.I.L.DE.-QS konnte eine signifikante Zunahme der Anzahl positiver und eine Abnahme negativer Kommunikationsmuster der Pflegefachperson ermittelt werden. Die wiederholte Beobachtung zeigte zudem, dass die Bewohner eine signifikant geringere Anzahl negativer und eine höhere Anzahl positiver Emotionen aufwiesen. Dies weist auf ein gesteigertes Wohlbefinden hin, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die positiv veränderten Kommunikationsmuster der Pflegefachpersonen beeinflusst wurde.

Fazit

Vor allem für den Erhalt der Autonomie von MmD scheint das Ausbrechen aus arbeitsökonomischen Routinen von großer Bedeutung zu sein. Damit dies gelingt, sollte kontinuierliches Feedback und eine reflexive Praxis ein zentraler Bestandteil der internen Qualitätssicherung sein. Pflegefachpersonen müssen insbesondere aufgrund der immer komplexer werdenden Anforderungen befähigt werden, sich mit ihrem eigenen Pflegeverhalten intensiv auseinanderzusetzen. Mit der Anwendung von H.I.L.DE.-QS kann es gelingen, die Realisierung von Pflegekompetenz der Mitarbeitenden und damit die Gestaltung einer intensiven Beziehung mit den Bewohnern wieder zu stärken und in den Mittelpunkt zu rücken.

[1] H.I.L.DE.-QS sowie der entsprechende Projektbericht kann auf der Webseite des GKV kostenfrei heruntergeladen werden:  Abschlussbericht 2019.pdf

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2024 zu finden.

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