von Marie-Sophie Emde (Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg – Literatur bei der Verfasserin)

Die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz wird von professionell Pflegenden immer wieder als herausfordernd wahrgenommen. Dabei sind Verhaltensweisen, wie z. B. ein andauerndes Rufen, eine gesteigerte Erregtheit oder ablehnendes Verhalten – ganz im Sinne der Grundsatzstellungnahme Menschen mit Demenz – Begleitung, Pflege und Therapie des MDS aus dem Jahr 2019 – vielmehr als Ausdruck von Bedürfnissen wahrzunehmen, die die pflegebedürftige Person mit Demenzerkrankung auf verbalem Wege nicht mehr kommunizieren kann. Pflegefachpersonen sind dazu angehalten, „herauszufinden, welche Aufforderung und welche Botschaft sich hinter den Verhaltenssymptomen des Menschen mit Demenz verbergen.“ (MDS, 2019, S. 36). Dieses sogenannte auffordernde Verhalten geht in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz häufig mit der Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen einher, die sich in vielen Fällen vermeiden lassen: Solche Maßnahmen reichen von aufgestellten Bettgittern, über Sitzhosen und Stecktische bis hin zur Anwendung, von z. B. Psychopharmaka, die darauf abzielen, den pflegebedürftigen Menschen ruhigzustellen.

Leitlinienbasierte und reflektierte Entscheidungsfindung

Grundsätzlich gilt es als unumstritten, dass eine leitlinienbasierte Behandlung mit Psychopharmaka (unter strenger Indikationsstellung und verantwortungsvoller Handhabung nach therapeutischen Standards) zur Steigerung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz beitragen kann. Die Auswahl des Medikaments sollte sich an den Therapieleitlinien, z. B. der S3-Leitlinie Demenzen orientieren (die kostenlos im Internet eingesehen werden kann). Eine beständige Überprüfung der Indikation von Psychopharmaka ist jedoch unabdingbar, denn auch in diesem Zusammenhang besteht das Ziel aller am Pflegeprozess beteiligten Akteure darin, die Lebensqualität des pflegebedürftigen Menschen aufrecht zu erhalten und dabei die Selbstbestimmung desselben anzuerkennen und zu wahren. Dieses Ziel, das nicht nur eine pflegefachlich-medizinische, sondern auch eine tiefgreifend ethische Komponente birgt, ist nur zu erreichen, wenn sich alle sowohl am Pflegeprozess, als auch an der Medikamentenverordnung Beteiligten einem kontinuierlichen Reflexionsprozess unterziehen. Führt man sich das mögliche Schadenspotenzial vor Augen, das mit einer falschen oder gar missbräuchlichen Psychopharmakagabe verbunden sein kann, so verwundert es kaum, dass der Deutsche Ethikrat 2018 in seiner Stellungnahme zur Anwendung wohltätiger Zwangsmaßnahmen auch Psychopharmakaverordnungen bei pflegebedürftigen Menschen thematisiert hat. So wird dort festgehalten, dass „[w]egen der Gefahr persönlichkeitsverändernder Effekte von Psychopharmaka […] an die Diagnose, Indikationsstellung und Dosierung besonders strenge Sorgfaltskriterien anzulegen [sind]“ und dass „die Notwendigkeit der Fortsetzung der Medikation […] regelmäßig fachärztlich zu überprüfen [ist].“ (Deutscher Ethikrat, 2018, S. 241f.). Vor dem Hintergrund einer sorgsamen und fachlich fundierten Verabreichung von Psychopharmaka kann die sogenannte „Serial Trial Intervention“ (STI) dazu beitragen, einen kontinuierlichen (und interdisziplinären) Reflexionsprozess anzustoßen. Die STI, die zunächst in den USA erarbeitet und erprobt wurde, ehe sie in Deutschland im Rahmen einer Studie in eine deutsche Fassung übertragen wurde, versteht sich als „assessmentgestütztes Entscheidungsmodell“  (MDS, 2019, S. 45).  Sie besteht aus fünf Schritten, deren Abfolge einen konkreten Handlungsplan darstellt. Die STI zielt darauf ab, die individuellen Bedürfnisse und Bedarfe der pflegebedürftigen Person zu erkennen und zu befriedigen[2] bzw. auffordernden Verhaltensweisen adäquat zu begegnen. Weiterhin sollen mit dem Einsatz der STI auch Schmerzen minimiert und der Einsatz von Psychopharmaka möglichst vermieden werden.

Der pflegerische Handlungsplan in fünf Schritten

Schritt 1: körperliches Assessment

Im ersten Schritt wird überprüft, ob den von Pflegekräften als herausfordernd erlebten psychischen Verhaltensweisen körperliche Ursachen zugrunde liegen könnten. Neben Schmerzen oder Beschwerden aufgrund von Erkrankungen, können auch ganz grundlegende Bedürfnisse, etwa Hunger oder Durst, vorliegen. Auch kleinere Beschwerden wie z. B. zu enge Kleidung oder unangepasste Hilfsmittel können bestimmte Verhaltensweisen auslösen. Wird eine akute Erkrankung, z. B. ein Harnwegsinfekt vermutet, so ist hausärztlicher Rat einzuholen bzw. eine Visite einzuleiten. Sofern nach erfolgter Intervention keine signifikante Veränderung im Verhalten zu beobachten ist, oder – ganz grundlegend – körperliche Beschwerden ausgeschlossen werden können, wird zu Schritt zwei übergegangen.

Schritt 2: affektives Assessment

Nun gilt es zu evaluieren, ob, und falls ja, welche psychosozialen und/oder umgebungsbezogenen Faktoren auf das Wohlbefinden bzw. das Erleben des Menschen mit Demenz Einfluss nehmen können. Hilfreich kann hier bspw. das „Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz für die Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen“ sein. Ungünstige Faktoren, wie z. B. ein nicht ausreichend befriedigtes Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit oder eine kaum zu verarbeitende Vielzahl an Umgebungsreizen sollten unbedingt verändert werden, sodass eine individuelle Umgebungs- und Tagesgestaltung umgesetzt werden kann. Bleibt das Verhalten der pflegebedürftigen Person nach einer solchen Anpassung der Faktoren unverändert oder wurden keinerlei affektive Bedürfnisse beobachtet, folgt Schritt drei des Handlungsplans.

Schritt 3: nicht-medikamentöse Maßnahmen

Im dritten Schritt erfolgt das Anbieten und Durchführen non-pharmakologischer Maßnahmen. Unter dem Leitgedanken einer aktivierenden Pflege und Betreuung zählen zu diesen vielfältigen Interventionen etwa Ansätze aus der basalen Stimulation oder der Aromatherapie, gezielte individuelle Begleitung und Beschäftigung sowie körperliche Aktivität. Welche dieser pflegerischen Maßnahmen letztlich ergriffen werden, bestimmt sich vor allem mit Blick auf die individuellen Vorlieben der betroffenen Person bzw. die Biografie. Führt die systematisch geplante und regelmäßige Durchführung dieser Maßnahmen nicht zu einer Abnahme der beobachteten Verhaltensweisen, wird zum vierten Schritt übergeleitet.

Schritt 4: versuchsweise Gabe eines Schmerzmittels

Grundsätzlich soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Analgetika bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen unterdurchschnittlich häufig verordnet werden. Es sollte also auch außerhalb der STI ein Fokus auf einer adäquaten Schmerzerfassung und der daraus folgenden Behandlung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz liegen. Sofern die Anordnung eines Schmerzmittels bei Schmerzen als Bedarfsmedikation bereits besteht, sollte diese nun ausgeschöpft werden. In diesem Zusammenhang bedarf es einer besonders engmaschigen Beobachtung, Schmerzerfassung und -dokumentation. Ist ein Schmerzmittel bereits fest angeordnet, sollte eine haus- und/oder fachärztliche Neubewertung der bestehenden Anordnung erwogen werden. Liegt noch keine Anordnung für eine Schmerzmedikation vor, kann an dieser Stelle – stets nach ärztlicher Rücksprache – eine versuchsweise Gabe von Schmerzmitteln erfolgen. Führt diese Intervention zu einer Verminderung des Verhaltens, sollte überprüft werden, ob eine entsprechende Dauermedikation indiziert wäre. Nehmen die Verhaltensweisen durch diese Intervention nicht ab, kann eine Erhöhung der Dosierung erwogen werden oder der Übergang zu Schritt fünf geboten sein.

Schritt 5: Ärztliche Beratung und/oder versuchsweise Gabe von Psychopharmaka

Dieser letzte Schritt wird erst dann notwendig, wenn alle vorherigen Interventionen nicht den gewünschten Erfolg – also die Minderung des auffordernden Verhaltens und somit eine Steigerung der Lebensqualität der zu pflegenden Person – erzielen konnten. Es sollten nun Beratungsgespräche mit allen am Pflegeprozess beteiligten Personen erfolgen. Sollte die betroffene Person bereits Psychopharmaka erhalten, gilt es nun die Dosierung zu evaluieren und unter Umständen neu anzupassen. Auch eine versuchsweise Gabe von Psychopharmaka, sofern bisher keines angeordnet war, ist in diesem Schritt möglich. Führt auch diese Medikation nicht zu einer Minderung der Verhaltensweisen, beginnt der Prozess erneut – die systematische und möglicherweise zyklische Abfolge der Assessments und Interventionen endet erst, wenn eine bedeutende Verhaltensänderung erreicht werden konnte.

Schlussfolgerung

Insgesamt birgt die Anwendung von Handlungsleitfäden, wie z. B. die regelhafte Anwendung der STI durchaus das Potenzial, die Ursache auffordernder Verhaltensweisen zu erkennen, Schmerzen zu erfassen und zu mindern sowie eine reflektierte Gabe von Psychopharmaka zu initiieren. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Nutzung der STI langfristig dazu beitragen kann, pharmakologische Interventionen, die sich vermeiden lassen, bei Menschen mit Demenz zu minimieren.

Kurzinfo

Foto: Marie-Sophie Emde

Foto: Marie-Sophie Emde

Marie-Sophie Emde
Altenpflegerin / Bachelor of Arts (B.A.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Stud. Master of Education (M.Ed.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
E-Mail: marie-sophie.emde@gero.uni-heidelberg.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2022 zu finden.

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