von Dr. med. Sonja Krupp (Literatur beim Verfasser)
Bewegungsförderung ist zurzeit in aller Munde. Denn spontan bewegen sich insbesondere Senior*innen durchschnittlich deutlich weniger als die laut WHO und nationaler Versorgungsleitlinie geforderten mindestens 150 Minuten wöchentlich. In Seniorenheimen ist die Mehrheit der Bewohnenden auch gar nicht in der Lage, ihr Bewegungs-Management selbst in die Hand zu nehmen und adäquate Belastungszeiten und -intensitäten zu planen und durchzuführen. Neben tatsächlich limitierenden physischen Möglichkeiten können kognitive Einschränkungen, Sturzangst, depressive Stimmung und fehlende Bewegungsmotivation eine Rolle spielen bei der Abwärtsspirale aus körperlicher Passivität und abnehmender Fähigkeit zu körperlicher Aktivität.
Das Grundprinzip der Förderung ist das gleiche wie beim Sport in jüngeren Jahren, wenn auch viele zusätzliche Faktoren zu berücksichtigen sind: Der Leistungsstand wird erhoben und durch regelmäßiges Heranführen an die Leistungsgrenze verschiebt sich diese im Regelfall und lässt eine geringfügig höhere Leistung zu, die wiederum im positiven Fall weiter hinausgeschoben werden kann – eine Aufwärtsspirale. Der langfristige Erhalt der Mobilität resultiert dann aus der Überlagerung des Abwärtstrends durch den Alterungsprozess mit diesen positiven Impulsen.
Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege“
Der Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege“ definiert Mobilität als „Eigenbewegung des Menschen mit dem Ziel, sich fortzubewegen oder eine Lageveränderung des Körpers vorzunehmen“. Auch Bewegungen der Arme bzw. Hände gehören als Veränderung der Position von Körperteilen zur Mobilität. Der von Senioren erfahrungsgemäß am häufigsten genannte Wunsch ist jedoch, „wieder besser gehen“ zu können.
Soll dieser Wunsch unterstützt werden und die Förderung der Mobilität planvoll erfolgen, so macht dies im ersten Schritt eine differenzierte Erfassung der aktuellen Fähigkeiten des älteren Menschen erforderlich. Der Expertenstandard nennt als erstes Prozesskriterium eine Einschätzung der Mobilität zu Beginn und „regelmäßig in individuell festzulegenden Abständen sowie bei Veränderungen der mobilitätsrelevanten Einflussfaktoren“. Es wird kein standardisiertes Instrument für eine solche Einschätzung vorgeschlagen. Die Vorteile der Verwendung eines einheitlichen Einschätzungsinstrumentes liegen aber auf der Hand: Bei gegebener „Reliabilität“ als Testgütekriterium sind die Ergebnisse auch bei Erhebung durch unterschiedliche Personen stabil und Veränderungen der Ergebnisse ein zuverlässiges Zeichen für eine tatsächliche Veränderung der Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person.
Allen bekannt: Das Neue Begutachtungs-Assessment (NBA)
Zeitmangel herrscht nahezu überall und das Personal in Seniorenheimen muss Abläufe so gestalten, dass sich Verbesserungen für die Bewohner*innen mit möglichst wenig Aufwand erreichen lassen. Reicht der Einsatz des NBA, das ohnehin in allen Senioreneinrichtungen bekannt ist, für die Beurteilung der Mobilität unter dem Aspekt der Bewegungsförderung aus? Es enthält fünf Aufgaben („Items“) zur Beurteilung der Mobilität: 1. Positionswechsel im Bett, 2. Stabile Sitzposition halten, 3. Aufstehen aus sitzender Position/Umsetzen, 4. Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, 5. Treppensteigen.
Das Treppensteigen in alltagsrelevantem Umfang (eine Etage) liegt nur für wenige Bewohner*innen im Bereich des Möglichen. Es ist auch aus Sicht der meisten dieser Senior*innen nicht mehr zielrelevant. Zusätzlich führen Sicherheitsbedenken dazu, dass Heimpersonal überwiegend die Benutzung des Fahrstuhls empfiehlt, zumal Treppenstürze deutlich gefährlicher sind als solche auf ebener Fläche.
Die Items 1 bis 4 des NBA sind für die meisten Bewohner*innen relevant, die eigentliche Aufgabenstellung jedoch nicht so stark standardisiert, dass sie sich für eine Verlaufsbeurteilung eignen würden. So ist z. B. bei der ersten Aufgabe lediglich vom „Einnehmen von verschiedenen Positionen im Bett“ die Rede, ohne Festlegung auf einen bestimmten, genau beschriebenen Positionswechsel.
Eine weitere Schwäche des nicht für Verlaufsbeurteilungen konzipierten NBA liegt im Hinblick auf diesen Verwendungszweck in der Skalierung (selbstständig, überwiegend selbstständig, überwiegend unselbstständig, unselbstständig). Die Beschränkung auf vier Stufen geht damit einher, dass bereits die erste Stufe der Beeinträchtigung („überwiegend selbstständig“) die Abhängigkeit von personeller Hilfe beinhaltet. Es erfolgt unterhalb dieser Schwelle keine Differenzierung zwischen in Bezug auf die untersuchte Fähigkeit unbeeinträchtigten und beeinträchtigten Personen, die zwar noch „mit Ach und Krach“ selbstständig sind, aber dringlich der Förderung bedürfen, um dies nicht einzubüßen.
Die Definitionshilfen des Begutachtungsmanuals für die vier Merkmalsausprägungen stufen z. B. Personen, die ihre Position nur durch Bedienen eines elektrisch verstellbaren Bettes verändern können, als selbstständig bezüglich Positionswechseln ein (Item 1). Personen, die sich ohne Armlehnen nicht in der Sitzposition halten können, erhalten die zweitbeste Bewertung („überwiegend selbstständig“), solange sie mit Armlehnen für die Länge einer Mahlzeit sitzfähig sind (Item 2). Bei Item 3 erhalten auch Bewohner*innen die bestmögliche Bewertung („selbstständig“), die nicht stehen können, sich aber unter Einsatz ihrer Armkraft umsetzen.
Für die Bewegungsförderung entwickelt: Die Lübecker Skala der Basis-Mobilität
Soll Mobilität rechtzeitig gefördert werden, so ist eine gesonderte Bewertungsstufe erforderlich in dem Bereich, in dem eine Person noch selbstständig die gewünschte Aufgabe erfüllen kann, aber bereits beeinträchtigt ist – denn diese Menschen sind am stärksten von einem Verlust der selbstständigen Mobilität bedroht.
Die Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck hat daher speziell für Personen mit reduzierter Fortbewegungsfähigkeit die Lübecker Skala der Basis-Mobilität (Abbildung 1) entwickelt, die in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) für die Bewertung von sieben streng standardisierten Aufgaben zur Mobilität fünf Schweregrade vorsieht. Die damit erreichbare stärker differenzierende Erfassung der Fähigkeiten kann als Grundlage einer an den Wünschen, aber auch Möglichkeiten des älteren Menschen orientierten Förderung genutzt werden – z. B. in den Projekten POLKA und PfleBeO.
Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2022 zu finden.