Das Lübecker Modell Bewegungswelten, ein Trainingsprogramm für pflegebedürftige ältere Menschen

von Dr. med. Sonja Krupp

Mit der Zunahme der Lebenserwartung verlängert sich auch die durchschnittliche Dauer der Phase, in der ältere Menschen auf pflegerische Unterstützung angewiesen sind. Sofern der Umzug in eine Pflegeinstitution erfolgt, ist oft ein rascher weiterer Rückzug aus der Selbstversorgung zu beobachten. Dieser Tendenz mit präventiven Maßnahmen entgegenzutreten, gehört heute mit zu den von Seniorenheimen zu leistenden Aufgaben.

Der Erhalt, wenn möglich der Aufbau der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ist eine Voraussetzung dafür, aktiver zu werden. Aber auch eine Verbesserung der sozialen Vernetzung mit der „neuen Nachbarschaft“ ist wichtig, wenn nach dem einschneidenden Erlebnis des Verlusts der altvertrauten Umgebung die Integration in diese Lebenswelt gelingen und die Motivation wachsen soll, so mobil und selbstständig wie möglich zu sein – auch wenn nun „die Pflege immer an Bord“ ist.

Allerdings erfordert es von den Senior*innen etwas Engagement, dem „natürlichen“ Abbauprozess entgegenzuarbeiten. Das „Lübecker Modell Bewegungswelten“, ein von der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck kontinuierlich weiterentwickeltes Programm, versüßt diese Anstrengung durch die konsequente Verankerung der zu absolvierenden Übungen in einem Thema pro Trainingseinheit, so dass die Fantasie angesprochen wird und Gedächtnisinhalte aktiviert werden. Zweimal wöchentlich begleiten speziell geschulte Übungsleitende eine Stunde lang die Teilnehmenden durch eine der „Bewegungswelten“,15 Pausenminuten werden flexibel eingestreut. „Am Strand“ geht es ums Eincremen, Muscheln sammeln und verschiedene Schwimmstile, beim „Hausbau“ wird geschaufelt, Zement gerührt und gemauert. Die Senior*innen sind kein schweigendes Publikum, sondern viele tragen Erinnerungen aus ihrer Lebensgeschichte oder anders erworbenes Wissen bei. So lernen sich alle besser kennen und festigen ihre sozialen Beziehungen auch für die Zeit, die sie außerhalb des Gruppentrainings verbringen.

Erleichtert wird dies zusätzlich durch „Mein tägliches Bewegungsprogramm“, ein zu jeder „Bewegungswelt“ in zwei verschiedenen Ausführungen erhältliches DIN A4-Blatt mit illustrierten Anleitungen zu je drei Übungen aus dem Gruppentraining, die für einen optimalen Effekt täglich mindestens für zehn Minuten durchgeführt werden sollten. Die meisten Senior*innen brauchen für ihr tägliches Bewegungsprogramm etwas Unterstützung – die muss aber nicht immer nur vom Personal ausgehen. Es kann auch gelingen, zur Bildung von Kleingruppen anzuregen, in denen man sich gegenseitig ein wenig hilft: Eine*r kann noch gut Sehen und liest den erklärenden Text, eine*r hat ein gutes Gedächtnis und erinnert sich, wie die Übung ging und eine*r hat vielleicht mit dem Lesen und dem Gedächtnis ein Problem, kann die Bewegungsübungen aber nachahmen.

Bei schwerer Demenz ist das Langzeitgedächtnis in der Regel so stark betroffen, dass das besondere biopsychosoziale Konzept der „Bewegungswelten“ nicht greifen kann. Je nach Ausgestaltung der Defizite hinsichtlich Kognition und vor allem Sozialverhalten können von Demenz betroffene Senior*innen sich jedoch meistens, einschließlich des mittleren Schweregrades, gut in die Trainingsgruppen integrieren und vom „Lübecker Modell Bewegungswelten“ profitieren. Dabei erleichtert die Anlehnung der Übungen an alltagspraktische Tätigkeiten den Senior*innen das Lernen, weil in motorischen Hirnarealen gespeicherte automatisierte Bewegungsabläufe abgerufen werden können. Dies ist auch für die Übungsleitenden hilfreich, denn es fällt ihnen so leichter, den Teilnehmenden zu vermitteln, wie sie die Übungen korrekt durchführen sollen, um die drei Regionen „Kopf bis Hand“, „Rumpf“ und „Beine“ zu trainieren und dabei Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und verschiedene Komponenten der Koordination zu fördern, was auch der Kognition zugutekommt.

Senioren führen ein Trainingsprogramm für pflegebedürftige durch

Foto: DRK-Therapiezentrum Marli GmbH

Im März 2019 erschienen im Bundesgesundheitsblatt vier Artikel zum „Lübecker Modell Bewegungswelten“, u. a. wurden die Ergebnisse einer kontrollierten Studie zur Wirksamkeit des Trainings veröffentlicht. Ein Jahr lang war alle drei Monate ein umfangreiches Assessment bei Heimbewohnenden vorgenommen worden. Es war ihnen während dieser Zeitspanne die Teilnahme an den übrigen angebotenen Aktivitäten freigestellt, zusätzlich konnten 10 von 16 Seniorenheime das „Lübecker Modell Bewegungswelten“ bereits in ihr Repertoire aufnehmen, die anderen sechs erst nach Abschluss der Studie. Ohne das neue Programm hatten sich nach einem Jahr 7 % der 53 Senior*innen in ihrer Selbstständigkeit verbessert, 58 % verschlechtert. Mit der Intervention konnten sich 45 % der 73 Teilnehmenden verbessern, 38 % verschlechterten sich. Das Risiko, sich im „Timed Up & Go Dual Task“ (Aufstehen, drei Meter gehen, zurückkehren, sich setzen, während dieser Aufgabe kontinuierlich verschiedene Tiere nennen) im Jahresverlauf zu verschlechtern, konnte bei jenen, die mindestens die Hälfte der Trainingseinheiten mitgemacht hatten, von 46 % auf 23 % gesenkt und somit fast halbiert werden. 51 % verbesserten sich mit, 13 % ohne das „Lübecker Modell Bewegungswelten“. Die Fortschritte der Senior*innen, die Fantasie und Fitness trainierten, konnte das Personal auch selbst beobachten und sich über die Stabilisierung freuen.

Während das Training sich anfangs nur an gehfähige Senior*innen wandte, werden inzwischen auch Personen in die Gruppen aufgenommen, die zwar nicht mehr gehen, aber noch mindestens eine Minute lang stehen können. Das „Lübecker Modell Bewegungswelten“ wird im Rahmen des Programms „Älter werden in Balance“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit mit Mitteln des Verbands der privaten Krankenversicherung e. V. (PKV) gefördert, die Teilnahme an der Schulung zu Übungsleitenden ist unter bestimmten Voraussetzungen auch 2021 kostenfrei möglich. Das erfolgreiche Trainingskonzept fließt außerdem in die Projekte POLKA unter Förderung der DAK-Gesundheit und PfleBeO, gefördert von der PKV, ein. Weitere Informationen erteilt die Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck.

Kurzinfo

Dr. med. Sonja Krupp
Wissenschaftliche Leitung der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck am Krankenhaus Rotes Kreuz Lübeck – Geriatriezentrum
krupp@geriatrie-luebeck.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2020 zu finden.

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