Die Digitalisierung von Gesundheit und Pflege stockt in Deutschland. Ganz anders als bei vielen unserer europäischen Nachbarn, wo eRezept, elektronische Patientenakte (ePA) und Identität schon längst Realität sind. Bundesgesundheitsminister Lauterbach kündigt deshalb einen Neustart an und will die ePA von heute 1 % Nutzer[1] bis zum Jahr 2025 auf 80 % steigern. Ob das realistisch ist und wo es hakt, haben wir in einem Gespräch mit dem IT-Sicherheits- und Datenschutzexperten Thomas Althammer erörtert.

DatenschutzexperteThomas Althammer

Datenschutzexperte
Thomas Althammer – Foto: Althammer & Kill

Herr Althammer, bisher ist die Einführung der Telematik-Infrastruktur (TI) nur sehr schleppend verlaufen. Finanzielle Anreize für Ärzte und eine damit einhergehende organische Verbreitung der ePA hat nicht die gewünschten Ergebnisse gezeigt. Was soll jetzt anders werden?

TA: Das Opt-Out-Prinzip gehört zu den Kernvorhaben der Strategie: Bundesgesundheitsminister Lauterbach schlägt mit der Widerspruchslösung vor, dass jeder Versicherte, der nicht widerspricht, zukünftig eine ePA erhält. Darin sollen bei der Krankenkasse medizinische Befunde und Informationen aus vorhergehenden Untersuchungen und Behandlungen von Versicherten über Praxis- und Krankenhausgrenzen hinweg umfassend gespeichert werden können. Diese Widerspruchs-Lösung kennen wir auch schon aus der immer weiter sinkenden Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung, sie ist allerdings 2020 im Parlament gescheitert.

Unter dem Motto „Gemeinsam Digital“ soll nun die stockende Digitalisierung in der Gesundheits- und Pflegebranche angeschoben werden. Im Zentrum steht der Wunsch, die TI aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und die Akzeptanz dieser deutlich zu steigern. Welche Vorteile sehen Sie für die Versicherten?

TA: Die überbordende Bürokratie soll damit gehemmt und der Dokumentationsaufwand deutlich gesenkt werden, das Risiko von Fehlmedikationen minimiert, Komplikationen früher erkannt und Pflegepersonal sowie Angehörige entlastet werden, was sich letztendlich auch positiv auf die Sterblichkeit der Patienten auswirken soll. Das sind alles Punkte, die alle Akteure lieber heute als morgen umgesetzt wissen möchten – alleine fehlt es am Mut, diese Schritte jetzt auch konsequent umzusetzen.

Welche Veränderungen kommen bei der Digitalisierung auf die Pflege zu?

TA: Für die Pflege ist das Vorhaben relevant, ein Kompetenzzentrum Digitalisierung und Pflege einzurichten. Das Ziel einer interoperablen Pflegedokumentation erscheint verlockend, dürfte in der Praxis jedoch auf einige Hürden stoßen. Seit Jahren wird das Thema Schnittstellen in der Pflege, aber auch im medizinischen Sektor, diskutiert und ist nicht einfach zu lösen.

Ein weiterer, auch für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen, interessanter Punkt ist die Nutzung von Gesundheits- und Pflegedaten zur Verbesserung von Forschung und Versorgung. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Deutschland in diesem Punkt nicht gut aufgestellt ist. Im Rahmen der Professionalisierung der Pflege ist die Nachfrage nach evidenzbasierten Daten groß. Lauterbach hält das Nicht-Nutzen vorhandener Daten für unverantwortlich und will die Forschung auf Grundlage von Gesundheitsdaten erleichtern – zum Nutzen für die Patienten. Im letzten Sommer hat auch die EU einen Vorstoß für einen Rechtsrahmen gewagt, um Gesundheitsdaten im europäischen Raum für Forschung und Innovation nutzbar zu machen. Dabei geht es darum, Daten anonymisiert zu nutzen.

Die TI kommt bisher in der ambulanten und stationären Pflege nicht an. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

TA: Das Handeln der Bundesregierung ist nicht einheitlich. Mit der Haltung „Wasch mir den Buckel, aber mach mich nicht nass“ kommen wir nicht weiter. Einerseits möchte Gesundheitsminister Lauterbach der seit Jahren stockenden TI-Einführung auf die Sprünge helfen, andererseits werden zeitgleich dafür notwendige Voraussetzungen auf die lange Bank geschoben. Der am 5. April 2023 im Kabinett verabschiedete Gesetzesentwurf zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (PUEG) sieht vor, die Frist für die verpflichtende Anbindung von Pflegeeinrichtungen an die TI um ein Jahr auf den 01.07.2025 zu verlängern – ein deutlicher Widerspruch zu den hehren Zielen der Digitalstrategie.

Bei allem Verständnis für die allgemein von Einrichtungen zu bewältigenden Herausforderungen, wirft das Einknicken der Bundesregierung Fragen auf. Seit Jahren ist der Umgang mit Rezepten und der Kommunikation mit Ärzten datenschutzrechtlich und prozesstechnisch eine Dauerbaustelle. Anstatt des angekündigten „Neustarts“ von Lauterbach werden Anbindungsvorhaben weiter hinausgezögert.

Also stehen die Pflegeeinrichtungen auf der Bremse und führen die Prozesse nicht ein?

TA: Nein, ganz im Gegenteil. Teilnehmende Einrichtungen des TI-Modellvorhabens, die sich mit Konnektoren, Heilberufsausweisen und Kommunikationssoftware ausgestattet haben, berichten von ernüchternden Ergebnissen. Ist nach kleineren Anlaufschwierigkeiten die technische Anbindung geschafft und damit die Voraussetzung für die Nutzung von TI-Diensten gegeben, stellt man fest, dass man in einen leeren Wald hineinruft. Es fehlt also an Kommunikationspartnern.

Niedergelassene Arztpraxen waren bisher nur in wenigen Fällen bereit, über die TI-Anwendungen mit den Einrichtungen zu kommunizieren. Zwar steigt die Zahl versendeter Arztbriefe ständig, die konkreten Zahlen laut „TI-Dashboard“ der gematik zeigen jedoch insgesamt bisher nur eine mäßige Nutzung. Die mangelnde Nutzung der TI ist der wesentliche Grund für die Neuausrichtung. Eine Ausnahme ist die sogenannte eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung), die seit Jahresanfang für Arbeitgeber verpflichtend ist. Stand April 2023 sind mehr als 98 Millionen eAU an Krankenkassen versandt worden.[2]

Ähnliche Herausforderungen zeigen sich beim E-Rezept. Von den mehr als 18.000 Apotheken in Deutschland sind Anfang Juli 2023 gut die Hälfte in der Lage, E-Rezepte tatsächlich einzulösen. Dabei gelten die Fristen für eine Anbindung von Apotheken an die TI bereits deutlich länger als für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen.

Wenn die Akteure die Infrastruktur nicht nutzen, lässt das den Schluss zu, dass die angebotenen Tools zu wenig anwenderfreundlich oder gar schon wieder veraltet sind. Ist die gematik von der rasanten technologischen Entwicklung überrollt worden?

TA: Sicherlich lässt sich Kritik üben an der gematik, den heute zur Verfügung stehenden Anwendungen oder auch den etwas altbackenen technischen Verfahren, die ja schon vor langer Zeit entwickelt wurden.

Aus meiner Sicht liegt das Problem aber im Modell „Selbstverwaltung“. Das ist nicht gerade für Innovationsfreude bekannt. Erst wenn die verbindliche Nutzung von Rezepten, Arztbriefen und Patientenakten über die TI gesetzlich vorgeschrieben und sanktioniert wird, wird sich deren Nutzung tatsächlich durchsetzen. Mit Anreizen allein ist es scheinbar nicht getan. Politisch wird gern von offenen Fragen in Sachen Datenschutz und IT-Sicherheit gesprochen. Richtig ist, die zugrundeliegende Technik der TI basiert auf offenen und etablierten Standards. Sie muss an einigen Stellen moderner gestaltet werden, um den Anschluss an die heutige Entwicklung nicht zu verlieren (Stichwort Patienten und Smartphones). Die rechtlichen und technischen Grundlagen sind aber gegeben.

Was sollten Pflegeeinrichtungen jetzt tun? Weiter abwarten?

TA: Nein, auf keinen Fall. Auch wenn sich die verpflichtende Anbindung der Pflegeeinrichtungen an die TI noch um ein Jahr zu verlängern scheint – die TI wird kommen! Die ersten Schritte, nämlich den digitalen Ausweis für den Telematik Zugang und einen elektronischen Heilberufsausweis (eHBA) für jede Fachkraft zu beantragen, sich mit der benötigten Hardware, wie dem eHealth-Konnektor, zu beschäftigen, die Schnittstellen zur hauseigenen IT zu definieren und das Personal zu schulen – das alles braucht ebenso Zeit, wie die Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für Pflegeorganisationen auszuloten. Deshalb ist mein Rat, die Auseinandersetzung mit der TI nicht auf die lange Bank zu schieben.

Welche Risiken müssen Pflegeeinrichtungen im Umgang mit ePA, eRezept & Co auf dem Schirm haben?

TA: Ein großes Risiko ist beispielsweise der unberechtigte Zugriff auf sensible Patientendaten. Um dies zu verhindern, müssen strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, wie z. B. die Verschlüsselung der Daten und die Vergabe von individuellen Zugangsdaten für jeden Benutzenden. Außerdem müssen alle Mitarbeitenden, die Zugriff auf die ePA haben, regelmäßig geschult werden, damit sie wissen, welche Schutzmaßnahmen zu beachten sind. Ein weiteres Risiko ist der Verlust von Daten durch technische Defekte oder menschliches Versagen. Auch hier müssen entsprechende Vorkehrungen getroffen werden, wie z. B. regelmäßige Backups und redundante Speichersysteme. Insgesamt bietet die ePA aber auch für Pflegeeinrichtungen viele Vorteile und Chancen für eine bessere und effizientere Versorgung – sofern angemessene Sicherheits- und Datenschutzmaßnahmen gewährleistet sind.

Teilen Sie die Scheu vieler Pflegeeinrichtungen hinsichtlich TI im Hinblick auf den Schutz der sensiblen Daten der Bewohnenden?

TA: Wir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen dem Willen, Daten zu nutzen und der Pflicht, Daten zu schützen. Aber der Datenschutz ist hier bei der TI als Grund für Verzögerungen und mangelnde Innovationen explizit nicht der Hemmschuh: Die heute noch so weit verbreiteten Faxe bei Ärzten und Einrichtungen sind technisch überholt und seit Umstellung auf Voice over IP (VoIP) in den letzten Jahren datenschutzrechtlich als äußerst problematisch zu betrachten. Die TI könnte diese Relikte datenschutzfreundlich, technisch vernünftig und vor allem gut lesbar für alle Beteiligten schon heute ersetzen – wenn alle Akteure endlich mitmachen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Quellen:

[1] Insgesamt 73 Millionen: Alle gesetzlichen Krankenkassen – GKV-Spitzenverband, nur 652.000 haben eine ePA: TI-Dashboard Verlauf ePA – GEMATIK – Dashboards – Grafana
[2] TI-Dashboard | gematik (Bereich „kim“) – gesendete eAU

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2023 zu finden.

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