von Sebastian Ritzi und Marie-Sophie Emde
(Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg – Literatur bei den Verfassern)

Erscheinungsformen von FEM

Bei der Beschäftigung mit der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM) in der stationären Langzeitpflege zeigt sich, dass diese in verschiedenen Formen in Erscheinung treten können. Dabei sind Menschen mit Demenz bzw. kognitiven Einschränkungen am häufigsten von FEM betroffen. Über diese Maßnahmen, die dem Phänomen des wohltätigen Zwangs zuzuordnen sind, stellt der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme „Hilfe durch Zwang?“ fest, dass „jedwede Maßnahmen (auch mechanische), die eine Person von der freien Körperbewegung abhalten und/oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper durch die Anwendung irgendeiner Maßnahme, die am Körper oder in der Nähe des Körpers angebracht ist und von ihr nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden kann“ (Deutscher Ethikrat, 2018), als massive Eingriffe in die (Bewegungs-)Freiheit zu werten sind.

Wird einem Menschen durch mechanische Vorrichtungen, wie Bettgitter, Stecktische oder Sitzhosen, über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen, ist über den Betreuer bzw. den Bevollmächtigten eine Genehmigung zur Anwendung dieser Maßnahmen beim Betreuungsgericht einzuholen. Doch wie steht es um die Verabreichung von Medikamenten mit ruhigstellender Wirkung?

Medikamente als Form von FEM

Eine erste, rechtliche Antwort ist im § 1906 BGB zu finden, denn neben mechanischen Vorrichtungen adressiert dieser auch die Freiheitsentziehung durch Medikamente. Werden Medikamente mit dem primären Ziel der Ruhigstellung verabreicht, sind diese gleichermaßen als genehmigungspflichtige FEM zu werten. Tatsächlich entscheidet das Ziel der medikamentösen Therapie, ob es sich bei dieser um eine FEM handelt: Dient das Medikament allein zu Heilzwecken, hat aber eine bewegungseinschränkende Nebenwirkung, so handelt es sich nicht um eine FEM, d. h. es besteht auch rechtlich keine Genehmigungspflicht.

Kann nicht sicher gesagt werden, ob das Medikament in einem bestimmten Fall primär zur Ruhigstellung und damit zur Freiheitsentziehung dient, so ist im Zweifelsfall zum grundrechtlichen Schutz der Betroffenen davon auszugehen, dass eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einzuholen ist. Besonders wichtig ist es daher, einen engen Austausch zwischen Pflegeeinrichtungen und Betreuungsgerichten zu pflegen.

Medikamente als FEM: Das sollten Sie beachten

  • § 1906 BGB adressiert neben mechanischen Vorrichtungen auch die Freiheitsentziehung durch Medikamente. Werden Medikamente mit dem primären Ziel der Ruhigstellung verabreicht, sind diese als genehmigungspflichtige FEM zu werten.
  • Die Verabreichung von Psychopharmaka ist einer der großen Risikofaktoren für Stürze im Alter.
  • Die Verabreichung nicht indizierter sedierender Medikamente mit dem Ziel der Ruhigstellung sollte gründlich reflektiert werden: Medikamentöse FEM scheinen sanfter als mechanische Formen von FEM zu sein, doch auch hier handelt es sich um einen massiven Eingriff in die Selbstbestimmung.

Erhöhtes Sturzrisiko durch Polypharmazie und Psychopharmaka

Eine in der Pflegepraxis nach wie vor häufig vorgebrachte Begründung, um den Einsatz von FEM zu rechtfertigen, stellt die Prävention von Sturzereignissen dar – und dies obwohl nicht nur fachwissenschaftlicher Konsens, sondern auch Evidenz darüber besteht, dass FEM wie z. B. Bettgitter nicht mit einer Abnahme von Stürzen einhergehen. In diesem Zusammenhang darf nicht außer

Acht gelassen werden, dass auch pharmakologische Interventionen bei älteren Menschen das Sturzrisiko deutlich erhöhen können. Die pflegerische Versorgung von älteren und insbesondere multimorbiden älteren Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen wird häufig von der Verabreichung mehrerer verschiedener Arzneimittel begleitet. Nicht nur diese sog. Polypharmazie, von der gesprochen wird, wenn gleichzeitig fünf oder mehr Medikamente verordnet sind, zählt aktuell zu den wichtigsten Faktoren für Stürze im Alter, sondern auch generell die Verordnung bzw. die Verabreichung von Psychopharmaka.

Umso schwerer wiegt, dass der Pflege-Report 2021 zu dem Ergebnis kam, dass 56,4 % der ab 65-jährigen pflegebedürftigen Menschen in der vollstationären Pflege mindestens eine Verordnung von Psychopharmaka (Antipsychotika, Anxiolytika, Hypnotika, Sedativa oder Antidepressiva) aufwiesen. Dem Report ist ebenfalls zu entnehmen, dass 69,3 % der pflegebedürftigen Menschen in der stationären Langzeitpflege im Jahr 2019 von Polypharmazie betroffen waren. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Verabreichung von psychotropen Medikamenten noch immer zum pflegerischen Alltag in der Altenpflege gehört. Es kann daher zunächst kritisch festgehalten werden, dass über die Hälfte der pflegebedürftigen Menschen in der stationären Langzeitpflege im Jahr 2019 beiden wesentlichen Risikofaktoren für Sturzereignisse ausgesetzt waren.

Stürze im Alter sind jedoch häufig multifaktoriell bedingt und entstehen aus dem Zusammenspiel von internen Faktoren, wie z. B. dem Frailty-Syndrom (Gebrechlichkeit) und Einbußen in der Sehkraft sowie externen Faktoren wie z. B. – und in diesem Beitrag besonders relevant – FEM bzw. ruhigstellenden Medikamenten.

Strenge Sorgfaltskriterien

Rosa Pillen in auf einem Tisch - Foto: Karolina Grabowska –Pexels

Foto: Karolina Grabowska –Pexels

Wie der Deutsche Ethikrat betont, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass es auch ernste Situationen von agitiertem, depressivem oder suizidalem Verhalten gibt, bei denen die Gabe von Psychopharmaka therapeutisch indiziert ist. Jedoch ist die besondere Tiefe des Eingriffs sowie die Gefahr einer aus der Medikation resultierenden Persönlichkeitsveränderung nicht zu unterschätzen. Vor diesem Hintergrund sind vonseiten der Pflegeeinrichtung entsprechend strenge Sorgfaltskriterien zu berücksichtigen. Besonders sollten sich Pflegefachkräfte z. B. im Rahmen von regelmäßig geplanten Pflegevisiten zusammen mit den haus- und fachärztlichen Diensten darum bemühen, die Diagnosen und damit die Indikation des Medikaments sowie die Angemessenheit der Dosierung und die Erforderlichkeit der Medikation zu überprüfen. Dies gilt auch und besonders nach Krankenhausaufenthalten.

Der Einsatz von Psychopharmaka bestimmt sich grundsätzlich durch die medizinische Diagnose und die mit dieser einhergehenden leitliniengerechten Therapie. Die Verordnung von Psychopharmaka wird jedoch vor allem in vollstationären Pflegeeinrichtungen häufig mit auffordernden Verhaltenssymptomen der Bewohner begründet, die möglicherweise als störend empfunden werden könnten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass jedem Verhalten eine Ursache zugrunde liegt: Diese Verhaltensweisen sind keineswegs als „herausfordernd“ intendiert – auch wenn sie immer noch häufig mit diesem Adjektiv versehen werden –, sondern stellen oftmals den Ausdruck von Bedürfnissen oder z. B. Schmerzen dar.

Eine bereits häufig diskutierte Erhebung der Münchner Heimaufsicht aus den Jahren 2010/11 ergab, dass bei einem Großteil von Pflegeheimbewohnern Psychopharmaka nahezu regelhaft fest oder zumindest bei Bedarf verordnet waren. Die Bedarfsgabe erfolgte insbesondere abends oder nachts, was mit Blick auf eine möglicherweise intendierte Ruhigstellung der Bewohner nicht verwundert. Die Ergebnisse der Münchner Erhebung stützen die Annahme, dass Psychopharmaka in großem Stil zur Ruhigstellung – konkret also als FEM – genutzt werden.

Ethische Aspekte

Die Verabreichung nicht indizierter sedierender Medikamente mit dem Ziel der Ruhigstellung ist nicht nur rechtlich und pflegefachlich problematisch, sondern auch ethisch unbedingt zu reflektieren. Zunächst erscheinen medikamentöse FEM von außen sanfter als mechanische Formen von FEM wie z. B. Fixiergurte. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass es sich dabei nicht weniger um einen massiven Eingriff in die menschliche Freiheit handelt: Man nimmt dem Betroffenen nicht nur die äußerliche Bewegungsfreiheit wie im Falle von mechanischen FEM, sondern aufgrund der Veränderung des Bewusstseinszustands noch zusätzlich die Freiheit, über den eigenen Leib zu bestimmen. Der philosophisch-ethische Begriff des Leibes hilft zu verstehen, wie schwerwiegend dieser Eingriff ist: Er meint dabei mehr als nur den Körper und bezeichnet die Einheit von Körper und Psyche des Menschen. In diesem Sinn trifft eine medikamentöse FEM im Kern die leibliche Einheit des Menschen. Er wird somit völlig fremdbestimmt.

Sowohl rechtlich als auch ethisch gilt, dass FEM nur dann Einsatz finden dürfen, wenn sie zum Wohl des Betroffenen erforderlich sowie verhältnismäßig sind und dabei stets das letztmögliche Mittel (lat. ultima ratio) darstellen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass alle möglichen alternativen pflegerischen Interventionen, die milder sind, gänzlich auszuschöpfen sind, bevor zu einer FEM gegriffen wird.

Alternative Handlungskonzepte

Einen konkreten Weg, wie diese Bestimmung möglicher Alternativen zu medikamentöser Freiheitsentziehung erfolgen kann, bildet die sog. Serial-Trial-Intervention (STI), die zudem in der Grundsatzstellungnahme des MDS „Menschen mit Demenz“ von 2019 positiv hervorgehoben wurde. Die STI versteht sich als fünfschrittiges „assessmentgestütztes Entscheidungsmodell“ (MDS, 2019) und hat zum Ziel, unbefriedigte Bedürfnisse sowie besonders ein mögliches Schmerzerleben von Pflegeheimbewohnern mit Demenz zu erkennen, um der Ursache von auffordernden Verhaltensweisen adäquat zu begegnen. So kann auf diese angemessen eingegangen werden, anstelle sie ohne Berücksichtigung möglicher physischer und psychischer Folgen durch Psychopharmaka auszuschalten.

Da FEM häufig durch dieses Verhalten begründet werden, kann davon ausgegangen werden, dass die STI langfristig auch FEM bei Menschen mit Demenz zu reduzieren vermag. Grundsätzlich ist die Verabreichung von Psychopharmaka in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen und interdisziplinär zu evaluieren.

Kurzinfo

Über die Autoren

Foto: Sebastian Ritzi

Foto: Sebastian Ritzi

Sebastian Ritzi

Altenpfleger / Pflegefachkraft für Gerontopsychiatrie
1. Staatsexamen, Gesundheit und Gesellschaft – Care
1. Staatsexamen, Philosophie/Ethik
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
E-Mail: sebastian.ritzi@gero.uni-heidelberg.de

Foto: Marie-Sophie Emde

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Marie-Sophie Emde

Altenpflegerin / Bachelor of Arts (B.A.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Stud. Master of Education (M.Ed.) Gerontologie,
Gesundheit und Care
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
E-Mail: marie-sophie.emde@gero.uni-heidelberg.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2021 zu finden.

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