von Dr. Eva Rütz, LL.M. und Dr. Carolin Pockrandt (Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Literatur bei den Verfasserinnen)
Nicht selten stehen Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen vor der Frage, welche Maßnahmen gegenüber den Bewohnern der Einrichtung zulässig sind. Darf ein an Demenz erkrankter Bewohner fixiert werden, um eine Selbstverletzung zu verhindern? Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (feM) ist im Gesundheitswesen ein sensibles und kontroverses Thema. Neben ethischen Gesichtspunkten spielen insbesondere rechtliche Überlegungen eine große Rolle. Die Beachtung gesetzlicher Vorgaben ist unumgänglich, da andernfalls rechtliche, insbesondere strafrechtliche, Konsequenzen drohen können. Denn die Pflegekräfte können sich beispielsweise bei einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, etwa bei einer unzulässigen Fixierung, wegen Freiheitsberaubung nach § 239 StGB strafbar machen. Auf der anderen Seite machen sie sich bei einer pflichtwidrig unterlassenen Fixierung, in deren Folge sich der Patient selbst verletzt oder suizidiert, wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung durch Unterlassen strafbar.
1. Gewährleistung von Freiheitsrechten
Die körperliche Selbstbestimmung und die körperliche Bewegungsfreiheit sind wesentliche und besonders schutzwürdige Rechtsgüter des Menschen. Dies ergibt sich u. a. aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), wonach die Freiheit der Person unverletzlich ist und in dieses Recht nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Auch § 239 des Strafgesetzbuchs (StGB) dient dem Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit. Danach wird eine Person, die einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. In manchen Fällen ist es jedoch unerlässlich, eine pflegebedürftige oder erkrankte Person zu ihrem eigenen Schutz oder zum Schutz von Personal und Mitbewohnern zu fixieren. Um allen Beteiligten einen möglichst umfassenden Schutz zu gewähren, existieren konkrete gesetzliche Regelungen, wann und unter welchen Voraussetzungen eine feM zulässig ist. Auch die Dauer der Maßnahme darf nicht willkürlich gewählt werden.
2. Definition und Beispiele
Der Begriff „feM“ wird in verschiedenen Gesetzen verwendet. Eine Definition lässt sich etwa dem Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs entnehmen. Nach § 1831 Abs. 4 BGB liegt eine feM vor, wenn dem Betroffenen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll. Die Freiheit wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entzogen, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. Voraussetzung sei – in Abgrenzung zur bloßen Freiheitsbeschränkung – eine besondere Eingriffsintensität und eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme. Eine feM liegt etwa beim Einsperren über einen längeren Zeitraum, beim Anbringen von Bettgittern oder Bauchgurten und bei der Fixierung von Körperteilen vor.
3. Rechtliche Grundlagen
Die Freiheit einer Person darf grundsätzlich nur aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf es nur dann nicht, wenn der Betroffene in die konkrete feM eingewilligt hat. Denn eine Freiheitsentziehung setzt voraus, dass die Maßnahme gegen oder ohne den Willen des Betroffenen durchgeführt wird. Bei einer Einwilligung in die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter – hier der körperlichen Fortbewegungsfreiheit – kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit, sondern auf die Einwilligungsfähigkeit der betroffenen Person an. Einwilligungsfähig ist insoweit, wer die feM nach Art, Bedeutung und Tragweite erfassen und sei-nen Willen hieran ausrichten kann.
Hat der Betroffene nicht in die feM eingewilligt, hängt ihre Zulässigkeit von den gesetzlichen Regelungen ab. In Pflegeheimen kommen für eine Freiheitsentziehung insbesondere die nachfolgend gelisteten Rechtsgrundlagen in Betracht:
- § 1831 Abs. 4 BGB im Betreuungsrecht,
- die jeweiligen landesrechtlichen Gesetze über Schutz und Hilfen für psychisch Erkrankte (z. B. § 20 PsychKG in Nordrhein-Westfalen),
- die allgemeinen strafrechtlichen rechtfertigenden Regelungen zur Notwehr und Nothilfe nach § 32 StGB sowie
- der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB.
Welche gesetzliche Regelung einschlägig ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, z. B. davon, ob der Betroffene unter Betreuung steht (§ 1831 Abs. 4 BGB) oder, ob er psychisch erkrankt ist (z. B. § 20 PsychKG NRW). Maßgeblich ist ferner die Ursache der freiheitsentziehenden Maßnahme. So kommt eine Legitimierung nach § 1831 Abs. 4 BGB nur dann in Betracht, wenn der Betreute seine eigene Gesundheit oder sein eigenes Leben gefährdet. Dient die Maßnahme hingegen dem Schutz Dritter, z. B. von Personal oder anderen Mitbewohnern, sind die Voraussetzungen der Notwehr, der Nothilfe, des rechtfertigenden Notstands oder bei einem psychisch Erkrankten das jeweilige landesrechtliche Gesetz über Schutz und Hilfen für psychisch Erkrankte zu prüfen.
4. Zulässigkeit
Die Anwendung feM ist unabhängig von der konkreten Rechtsgrundlage stets an strenge Voraussetzungen gebunden und bedarf wegen der zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe einer konkreten Einzelfallprüfung. Diese insbesondere formalen Voraussetzungen sind strengstens zu beachten. Andernfalls drohen erhebliche ggf. sogar strafrechtliche Konsequenzen, die auch nicht nachträglich „geheilt“ werden können. Eine Strafbarkeit entfällt auch nicht dadurch, dass die Pflegekräfte auf Weisung ihres Arbeitgebers handeln, selbst wenn sie die Rechtswidrigkeit des Vorgehens gegenüber dem Arbeitgeber gerügt haben.
Die einzelnen Voraussetzungen variieren abhängig von der jeweiligen Rechtsgrundlage. Die gesetzlichen Regelungen und deren Auslegung werden hierbei maßgeblich durch die Rechtsprechung beeinflusst. So hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2018 in einem grundlegenden Urteil entschieden, dass die Fixierung von Psychiatriepatienten einer richterlichen Genehmigung bedarf, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde überschreitet.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen feM werden nachfolgend im Einzelnen am Beispiel des § 1831 Abs. 4 BGB, der die Freiheitsentziehung von Betreuten regelt, erläutert. § 1831 Abs. 4 BGB normiert, unter welchen – strengen – Voraussetzungen einem Betreuten, der sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden darf.
4.1. Dauer der Maßnahme
Eine „regelmäßige“ Freiheitsentziehung ist gegeben, wenn die Maßnahme stets zu derselben Zeit erfolgt, etwa beim allnächtlichen Verschließen der Zimmertür, oder aus wiederholtem Anlass wie bei wiederkehrender Ruhestörung. Wann eine feM „über einen längeren Zeitraum“ andauert, ist im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu beurteilen. Relevant ist hier insbesondere die Schwere und die Intensität des Eingriffs. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fixierungen im Rahmen öffentlichrechtlicher Unterbringungen wird vertreten, dass eine Überschreitung von 30 Minuten bereits genügt.
4.2. Zulässigkeit
Die Freiheitsentziehung des Betreuten ist nur zulässig, wenn
- die Gefahr besteht, dass sich der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung selbst tötet oder erheblich verletzt oder
- die Maßnahme zur Durchführung einer Untersuchung des Gesundheitszustands, einer Heilbehandlung oder eines ärztlichen Eingriffs zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens erforderlich ist.
Neben den vorgenannten Voraussetzungen bedarf es der vorherigen Genehmigung des Betreuungsgerichts. Dies gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn mit dem Aufschub der Maßnahme eine Gefahr verbunden wäre. In diesem Fall muss die Genehmigung unverzüglich nachgeholt werden. Die Beteiligung des Betreuungsgerichts dient dem Schutz des Betroffenen und verdeutlicht den hohen Stellenwert des zu schützenden Rechtsguts.
5. Durchführung der Maßnahmen durch das Pflegepersonal
Die rechtmäßige Durchführung feM ist wegen der Vielzahl der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und der Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen sehr anspruchsvoll. Erschwerend tritt hinzu, dass häufig in kürzester Zeit über das „Ob“ und das „Wie“ derartiger Maßnahmen zu entscheiden ist. Das Pflegepersonal trägt somit eine große Verantwortung, die unter Berücksichtigung des Gewichts der betroffenen Rechtsgüter eine fachliche Expertise unerlässlich macht. Die Teilnahme an regelmäßigen Schulungen kann zum Schutz der Bewohner und zur Wahrung ihrer Selbstbestimmung beitragen. Darüber hinaus verringert sie das Risiko unzulässiger Maßnahmen und damit einhergehender rechtlicher Konsequenzen.
Neben der regelmäßigen Teilnahme an Schulungen ist es besonders wichtig, jegliche Maßnahmen in detaillierter Form zu dokumentieren. Die Dokumentation sollte sich insbesondere auf die Art der Maßnahme, die Ursache, die Dauer und die Überprüfung ihrer fortdauernden Zulässigkeit beziehen. Letzteres folgt daraus, dass die Freiheitsentziehung zu beenden ist, wenn ihre Voraussetzungen entfallen sind (vgl. etwa § 1831 Abs. 3 BGB). Daher ist in regelmäßigen Abständen zu prüfen, ob die Maßnahme weiterhin erforderlich ist.
6. Fazit
Die Anwendung feM in der Pflege ist ein komplexes und sensibles Thema, das in Deutschland durch klare rechtliche Bestimmungen geregelt ist. Wegen des Stellenwerts und der Höchstpersönlichkeit der körperlichen Bewegungsfreiheit sollten feM stets das letzte Mittel sein und nur dann angewandt werden, wenn alle anderen Alternativen ausgeschöpft sind. Es ist ferner zu empfehlen, das Pflegepersonal regelmäßig von Fachkräften schulen zu lassen.
feM auf einen Blick
- Rechtliche Sensibilität: Freiheitsentziehende Maßnahmen (feM) wie Fixierungen in Pflegeeinrichtungen sind rechtlich sensibel und können bei Missachtung gesetzlicher Vorgaben zu strafrechtlichen Konsequenzen führen.
- Grundrecht auf Freiheit: Körperliche Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit sind durch Art. 2 Abs. 2 GG besonders geschützt. Eingriffe sind nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig.
- Definition feM: Nach § 1831 Abs. 4 BGB liegt eine feM vor, wenn die Freiheit durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder andere Methoden über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig entzogen wird.
- Gesetzliche Grundlagen: feM sind nur erlaubt, wenn der Betroffene einwilligt oder gesetzliche Regelungen dies erlauben (z. B. Betreuungsrecht, PsychKG der Länder, Notwehr/Nothilfe, rechtfertigender Notstand).
- Zulässigkeitsvoraussetzungen: Die Anwendung von feM ist an strenge Voraussetzungen gebunden und bedarf einer Einzelfallprüfung. Eine richterliche Genehmigung ist oft erforderlich.
- Verantwortung des Pflegepersonals: Pflegekräfte tragen die Verantwortung für die korrekte Anwendung von feM und benötigen fachliche Expertise sowie regelmäßige Schulungen.
- Dokumentationspflicht: Jede feM muss detailliert dokumentiert werden, einschließlich Art, Ursache, Dauer und regelmäßiger Überprüfung der Zulässigkeit.
- Fazit: feM sollten stets das letzte Mittel sein und nur zur Anwendung kommen, wenn keine anderen Alternativen mehr bestehen. Regelmäßige Schulungen des Pflegepersonals sind empfehlenswert.
Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2024 zu finden.