In Politik und Wirtschaft wird derzeit viel über die Digitalisierung diskutiert. Tatsächlich können neue Technologien auch den Alltag in der professionellen Pflege verändern.
Ein Fachbeitrag von Dr. Volker Hielscher
Durch Computer, Mobilfunk und Internet werden Daten immer schneller verarbeitet und es wird möglich, auf diese Daten an beinahe jedem Ort zuzugreifen. Die Betreiber von Pflegeeinrichtungen stehen also vor der Frage, inwieweit sie die Potenziale digitaler Technik für eine höhere Effizienz in den Einrichtungen und für eine Entlastung der Pflegekräfte nutzen können.
Viele Einrichtungen haben in den letzten Jahren in der Verwaltung digitale Unterstützungs-, Informations- und Kommunikationssysteme (z. B. Abrechnung, Personaleinsatz, Arbeitszeit- und Ausfallplanung) und in der Pflege eine EDV-gestützte Dokumentation und Pflegeplanung eingeführt. Pflegeprozess und Maßnahmen werden für jeden Bewohner individuell angelegt.
Im Alltag wird die Verrichtung einzelner Pflegeschritte, verkürzt gesprochen, an mobilen oder dezentral angebrachten Eingabegeräten mit Unterstützung spezieller Dokumentationssoftware quasi während der Arbeit „abgehakt“ und auf einem zentralen Datenserver gespeichert. Die Daten von Klientinnen und Klienten müssen nicht mehr in papierenen Akten nachgeschlagen werden, sondern können auf Knopfdruck aktuell aufgerufen werden. Eine „Digitalisierung der Pflegearbeit“ findet vor allem in diesem Bereich statt. Mit Blick auf die Pflegekräfte tauchen dabei verschiedene Fragen auf:
Ausreichend qualifiziert?
Nur wenn sich Beschäftigte kompetent in der Handhabung einzelner Geräte oder ganzer technischer Systeme fühlen, sind sie in der Lage und dazu bereit, die Technologien auch im Arbeitsalltag produktiv zu nutzen. Werden sie nach dem Motto „mach‘ einfach mal“ mit den Geräten allein gelassen, stellt die Auseinandersetzung mit der Technik eher eine Mehrbelastung in einem ohnehin schon hoch beanspruchenden Beruf dar. Genügend Schulungen, Coaching und Zeit zum „Ausprobieren“ sind daher wichtige Voraussetzungen für den Erwerb der notwendigen Technikkompetenzen. Doch gerade kleinere Einrichtungen und Dienste haben nur beschränkte Kapazitäten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neben dem laufenden Betrieb für Schulungen freizustellen – hier bleibt eine Herausforderung für die Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Einsparung von Personal?
Mit dem IT-Einsatz in der Dokumentation verbinden sich häufig Erwartungen an eine größere Effizienz, weil sie einfacher und schneller „am Bett“ erledigt werden kann. Falls es in der Praxis tatsächlich Zeitgewinne gibt, ist zu fragen, wo diese Potenziale verbleiben. Hier zeigt sich ein Spannungsfeld: Es könnten mehr Freiräume für die eigentliche Pflegearbeit „am Menschen“ genutzt werden, wenn die Pflegekräfte in der gewonnenen Zeit keine zusätzlichen Aufgaben übernehmen müssen. Es könnte aber auch darauf hinauslaufen, dass langfristig Personal eingespart wird, damit sich die Investitionen in die Technologie rentieren.
Stärkere Kontrolle?
Die EDV-gestützte Dokumentation bildet die Pflegearbeit in einem bisher nicht gekannten Ausmaß ab. Mit einem Mausklick kann nachgesehen werden, welche Arbeiten bereits erledigt sind. Dies wirft Fragen nach der Kontrolle der Pflegearbeit auf:
- Unter welchen Bedingungen sollen Leitungskräfte in „Echtzeit“ die Arbeitsleistung des Personals überprüfen können?
- Wie kann die höhere Transparenz der Dokumentation für eine Stärkung der Pflegequalität genutzt werden, ohne den Leistungsdruck für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhöhen?
Für die Einrichtungsleitungen ist überdies interessant, inwiefern eine genauere Erfassung der Pflegeleistungen auch zur Refinanzierung der Pflege beitragen kann – etwa wenn mit Blick auf das Einstufungsmanagement die Dokumentation eine realistischere und präzisere Beurteilung des Pflegeaufwands erlaubt.
Auswirkungen auf die Pflegeinteraktion?
In Bezug auf die Abläufe in der Pflege ist nach den Wirkungen der standardisierten EDV-Abfragen zu fragen:
- Wird möglicherweise angesichts des Arbeitsdrucks in der Pflege nur noch das erledigt, was das Menü einer Dokumentationssoftware abfordert?
- Welche Spielräume bleiben für spontane Zuwendung und für ein situatives Eingehen auf die Bedarfe der zu Pflegenden?
- Wie können solche nicht geplanten Bedarfe wiederum in den Standards des Systems erfasst werden?
Hier sind hinsichtlich der Prägung der Pflegeinteraktion durch die Technologie noch viele Fragen offen.
Technikvermittlung als neue Anforderung?
In neueren Untersuchungen zum Technikeinsatz in der Altenpflege konnte gezeigt werden, dass die Technik in unterschiedlichem Ausmaß in die Interaktion zwischen Pflegekraft und zu Pflegendem „eindringt“. So müssen die Pflegekräfte bei vielen digitalen Dokumentationssystemen die durchgeführten Maßnahmen oder Vitalwerte am Smartphone im Beisein von Heimbewohnern „abhaken“. Manche Systeme erinnern durch einen Klingelton daran, dass bestimmte Pflegeleistungen abgeschlossen sein sollten.
All dies kann zu Irritationen beim Pflegebedürftigen führen. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsteht dadurch die neue Anforderung, dass sie die Techniknutzung „vermitteln“ müssen. Die Anwendung der Technik muss also begründet und erläutert werden, damit Pflegebedürftige und Angehörige zum einen verstehen, wozu technische Gerätschaften genutzt werden und zum anderen diese technische Unterstützung auch akzeptieren. Sonst könnte das Eintippen von Werten in ein Smartphone schnell in der Richtung missverstanden werden, dass die Pflegekraft während ihrer Arbeitszeit mit dem Handy „herumspielt“.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass digitale Dokumentation und Prozessplanung Zeitaufwand reduzieren und dazu beitragen kann, Pflegearbeit genauer zu steuern und Fachstandards stringent umzusetzen.
Vor allem Pflegehilfskräfte können durch standardisierte Abfragen der Pflegeschritte wirkungsvoll unterstützt werden, alle Pflegehandlungen umfassend und vollständig auszuführen. Dagegen führen Pflegefachkräfte gelegentlich an, dass diese Standardisierung der Komplexität des Pflegealltags nicht gerecht und im face-to-face-Kontakt zur pflegebedürftigen Person als unangemessen oder fremd empfunden wird. Die angesprochenen Aspekte werden bisher wenig berücksichtigt. So ist die gesellschaftliche Debatte um „Digitalisierung“ oder „Arbeit 4.0“ in der Pflege auch deshalb nur bedingt angekommen, weil sie einen blinden Fleck für personennahe Dienstleistungen hat:
Technik muss in die interaktive Arbeitssituation, also in den Austausch und die Beziehung zwischen Professionellen und Hilfebedürftigen, hineinpassen und von dort aus entwickelt und gestaltet werden
Kurzinfo
Hielscher@iso-institut.de
Dr. Volker Hielscher, wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso) in Saarbrücken.