von Dr. Gesa Linnemann

Gesa Linnemann - Foto privat

Foto: privat

In der Raumstation ISS umherschweben, den Heimatort binnen einer Minute erreichen und besichtigen, auf einer einsamen Insel entspannen oder in der Antarktis Pinguine beobachten – was eigentlich meist unmöglich umzusetzen ist, davon kann man sich mithilfe von Virtueller Realität (engl. Virtual Reality, abgekürzt VR) trotzdem einen – zumindest visuellen – Eindruck verschaffen.

VR-Brillen werden direkt auf dem Kopf getragen und ermöglichen, anders als Fernseh- oder Tabletbildschirm, einen dreidimensionalen Raumeindruck. Das Sichtfeld verändert sich mit den Bewegungen des Kopfes, sodass ein wirkliches Umschauen in der virtuellen Welt möglich ist. Dies vermittelt das Gefühl, tatsächlich in diese virtuelle Welt einzutauchen. Dieses Phänomen wird auch als „Immersion“ bezeichnet. Verstärkt wird es noch durch die Möglichkeit, sich im dreidimensionalen Raum zu bewegen und Objekte zu manipulieren. Letzteres kann entweder durch Controller erfolgen, die in der Hand gehalten werden, oder aber auch durch das bloße Verwenden der eigenen Hände, deren Bewegungen von Kameras außen an der VR-Brille registriert werden.

Ist die Technik für den Einsatz mit Seniorinnen und Senioren geeignet?

Dieser Frage gingen Huygelier und Kollegen[1] nach und stellten fest, dass die Akzeptanz von immersiver VR-Technik durch ältere Menschen hoch war. Auch gab es kaum Probleme mit Übelkeit („Cyber-Sickness“), die bei älterer VR-Brillen-Technologie häufiger ein Problem gewesen war. Auch wurde die zunächst neutrale Einstellung gegenüber VR dann positiv, wenn die Probanden die Technik ausprobieren konnten. Grundsätzlich ist also der Einsatz bei älteren Menschen gut möglich. Als nächster Schritt müssen konkrete, lohnenswerte Anwendungsgebiete identifiziert und evaluiert werden, wenn der Anspruch besteht, dass die Nutzung über reine Unterhaltung hinausgeht. Aktuelle und abgeschlossene Forschungsprojekte erkunden verschiedene Möglichkeiten, auch private Firmen bieten verschiedene Lösungen an (z. B. virtuelle Stadtrundgänge, Entspannungsprogramme, aber auch virtuelle Teilnahme an Familienfeiern o. ä.).

VR in der Biografiearbeit?

In einer Studie haben wir vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie untersucht, inwiefern VR die Biografiearbeit mit älteren Menschen unterstützen kann, genauer, wie „Virtuelle Reisen“ sich auf das Wohlbefinden auswirken und welche Effekte sie hervorrufen können. (Der vollständige Bericht ist kostenlos abrufbar unter https://pflege-professionell.at/konferenz)

Forschungspraktikantin Jessica Frank (mittig bzw. rechts sitzend) stellt die VR-Brille in einer Tagespflege-Einrichtung vor - 1

Fotos: Harald Westbeld

Persönlich bedeutsame Orte können aufgrund begrenzter Ressourcen (z. B. gesundheitliche, aber auch finanzielle) häufig nicht mehr aufgesucht werden; der Mobilitätsradius von Seniorenheimbewohnerinnen und -bewohnern ist meist sehr begrenzt. In der Biografiearbeit kann deshalb häufig vor allem auf Fotos, zunehmend auch auf Videosequenzen und Internetdatenbanken zugegriffen werden. Die durch VR mögliche Immersion bietet dahingehend noch weitere Möglichkeiten.

12 voll orientierte Personen (Durchschnittsalter 85 Jahre), die in stationären Einrichtungen lebten oder eine Tagespflege besuchten, nahmen teil. Zwischen zwei Befragungen erhielten sie die Möglichkeit, die „virtuelle Reise“ zu selbstgewählten, persönlich bedeutsamen Orten zu unternehmen. Dazu setzten wir die VR-Brille „Oculus Quest 2“ ein, da diese keinen zusätzlichen Computer benötigt („Stand Alone“-Variante) und ohne Kabel auskommt, die grafische Darstellung aber trotzdem gut genug ist, um das Gefühl der Immersion hervorzurufen. Aufgrund kartellrechtlicher Verfahren kann diese momentan in Deutschland nicht mehr erworben werden. Die günstigste Lösung, um einen ersten Eindruck von VR zu erlangen, sind Gestelle aus Karton oder Kunststoff, in die ein Smartphone eingelegt werden kann (zwischen 5 und 30 Euro).

Forschungspraktikantin Jessica Frank (mittig bzw. rechts sitzend) stellt die VR-Brille in einer Tagespflege-Einrichtung vor -

Forschungspraktikantin Jessica Frank (mittig bzw. rechts
sitzend) stellt die VR-Brille in einer Tagespflege-Einrichtung
vor – Fotos: Harald Westbeld

Allerdings bleibt hier der optische Eindruck wie auch das Gefühl der Immersion deutlich hinter einer „richtigen“ VR-Brille zurück. Bei der von uns verwendeten Software („App“) handelte es sich um „Wander VR“. Diese Anwendung greift auf die 360-Grad-Aufnahmen von Google Streetview zurück und macht sie in VR verfügbar. Überzeugender Vorteil hierbei ist, dass so sehr viele Orte auf der Welt ausgewählt werden können. Aus Sicherheitsgründen wurde die VR-Brille ausschließlich im Sitzen verwendet und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchgehend begleitet.

Es zeigte sich, dass das Gefühl der Immersion stark ausgeprägt war. Hinsichtlich der erfahrenen Gratifikation waren vor allem die Motive Genuss („Donnerwetter, das ist ja toll!“) und „Hilfe beim Wiedererinnern“ vorherrschend, gefolgt von der Erlebnisqualität („Das fühlt sich authentisch an, das ist wie echt.“). Weitere Aspekte waren u. a. das Generieren von Gesprächsthemen, Unterhaltung und Eskapismus.

Wie sieht die Zukunft für VR in der Pflege aus?

Für weitere Aussagen sind experimentelle Studien nötig. Auch weitere Nutzungsmöglichkeiten und Zielgruppen müssen in Zukunft weiter systematisch betrachtet werden. Interessante Möglichkeiten bieten sich auch in der Ausbildung von Fachkräften (siehe z. B. „A Walk through dementia“, das Erleben von Herausforderungen bei Demenz aus der Ich-Perspektive, https://www.awalkthroughdementia.org). Noch hat VR den Massenmarkt nicht erreicht und die Endgeräte sind relativ schwer. Hier bleibt abzuwarten, ob VR aus der Nische heraustreten kann und welche Anwendungsfelder sich etablieren können.

Zur Autorin: Die Diplom-Psychologin Dr. Gesa Linnemann ist Nachwuchsprofessorin zum Thema „Digitalisierung und Alter“ am Fachbereich Sozialwesen der FH Münster und als Mitarbeiterin im Referat Altenhilfe und Sozialstationen des Diözesancaritasverbandes Münster zu Fragen der Digitalisierung in der Altenhilfe tätig.

Kontakt: gesa.linnemann@fh-muenster.de / linnemann@caritas-muenster.de

[1] Huygelier, H., Schraepen, B., Van Ee, R., Abeele, V. V., & Gillebert, C. R. (2019). Acceptance of immersive head-mounted virtual reality in older adults. Scientific reports, 9(1), 1-12.

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2021 zu finden.

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