von Dr. Wolfgang Müller-Wittig (Branchenleiter Gesundheit und Pflege am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD)
Die Pflege steuert auf einen dramatischen Fachkräftemangel zu. Laut Prognose des hessischen Pflegereports wird die Zahl der benötigten Pflegekräfte in der Alten-, Kinder- und Langzeitpflege von 2022 bis 2040 um 50 % steigen. Dem wirkt das Fraunhofer IGD mit Technologien auf KI-Basis entgegen, die Pflegefachkräfte entlasten und die medizinische Versorgung von Bewohnenden verbessern.
Viele ältere Menschen haben mit tiefen Beinvenenthrombosen zu kämpfen. Aufgrund diffuser Symptome wird diese gefährliche Erkrankung jedoch häufig spät diagnostiziert. Die Folgen können schwerwiegend sein: Es drohen venöse Insuffizienz, Lungenembolien sowie ein postthrombotisches Syndrom. Mit veinXam hat das Fraunhofer IGD eine Lösung entwickelt, die die Diagnose erleichtert. Denn die Messung des Blutflusses kann damit nicht nur im Krankenhaus oder in der Arztpraxis stattfinden, sondern auch unkompliziert in der Pflegeeinrichtung oder zu Hause. Die Sensoren lassen sich auch in einen Kompressionsstrumpf integrieren, den viele ältere Menschen ohnehin dauerhaft tragen. Stellt veinXam krankhafte Veränderungen fest, sendet es eine Benachrichtigung an eine App oder an das Pflegepersonal. So können Thrombosen vermieden und frühzeitig behandelt werden.
Kontinuierliche und zuverlässige Überwachung der venösen Funktionen
„veinXam ist eine wegweisende Lösung auf Basis der bewährten Lichtreflexionsrheographie“, erklärt Florian Kirchbuchner, Abteilungsleiter Smart Living & Biometric Technologies beim Fraunhofer IGD. „Wir ermöglichen eine kontinuierliche Überwachung der venösen Funktionen über den Tag hinweg.“ Ob nach einer Operation, zur Kontrolle oder für Menschen mit einer Thrombose-Vorgeschichte – veinXam erhebt zuverlässig relevante Daten auch ohne Anwesenheit von Arzt- oder Pflegepersonal.
Die Sensoreinheit erfasst die Blutvolumenänderung mithilfe einer Fotodiode im nahen Infrarotbereich. Die Daten werden via Bluetooth Low Energy an eine Smartphone-App übertragen, die alle notwendigen Auswertungsschritte durchführt.
Insbesondere ältere Menschen sind von tiefen Beinvenenthrombosen betroffen: In dieser Altersgruppe liegt die Inzidenz bei fast 1:100. Für sie ist eine telemedizinische Anwendung wie veinXam besonders hilfreich. Nachdem das System nicht-invasiv auf der Haut angebracht wurde, erhalten die Nutzenden über eine App Anweisungen, wie sie – ähnlich der Untersuchung in der Arztpraxis – die für die Messung notwendigen Pumpbewegungen ausführen sollen. „Wir testen gerade, wie zuverlässig veinXam auch im Liegen und ohne aktives Starten des Messvorgangs funktioniert“, sagt Kirchbuchner. Diese Weiterentwicklung sei besonders für Menschen in Pflegeeinrichtungen relevant, die weniger mobil seien.
Perspektivisch soll auch eine Version entwickelt werden, die als Pflaster eingesetzt werden kann. Diese Version würde keine Batterie benötigen, sondern mit einem kleinen Kondensator betrieben werden, der einmal aufgeladen wird und dann etwa drei Tage lang hält. „So hätten wir einen Artikel, der preisgünstig ist und ohne ständiges Desinfizieren oder Neubeladen genutzt werden kann“, sagt Kirchbuchner.
Der Schutz der sensiblen Daten, die veinXam erhebt, ist den Forschenden besonders wichtig. „Wir wollen nicht, dass die Daten in die Cloud übertragen werden müssen“, betont Kirchbuchner. Gemeinsam mit potenziellen Industriepartnern planen die Forschenden, dass die Auswertung in den Pflegeeinrichtungen erfolgt.
Präventive Programme müssen besser gefördert werden
Derzeit konzentriert sich die Finanzierung im Gesundheitssystem hauptsächlich auf den Heilungsprozess, was die Umsetzung präventiver Maßnahmen erschwert. „Präventive Programme müssen besser gefördert werden, da sie nicht nur eine Vielzahl von Erkrankungen verhindern können, sondern so auch die Kosten für das Gesundheitssystem reduzieren“, sagt Kirchbuchner. Darüber hinaus könnten Technologien wie veinXam auch über die freiwilligen Leistungen der Krankenkassen kommuniziert werden. Langfristig sollte die Finanzierung durch die Krankenkassen erfolgen.
Neben der Überwachung von Beinvenen setzt das Fraunhofer IGD daher auf weitere Technologien zur Entlastung von Pflegekräften. Ein Ansatz ist die Integration von Smartwatches in den Pflegealltag, die Aktivitäten wie das Heben eines Bewohnenden, das Beziehen des Bettes oder das Waschen der pflegebedürftigen Person erkennen und automatisch dokumentieren. Dadurch müssen Pflegekräfte ihre Tätigkeiten nicht nachträglich aufschreiben, während schon der nächste Alarm ertönt. „Wir wollen die Pflegekraft nicht kontrollieren, sondern die Pflegequalität durch gesicherte Dokumentation verbessern“, betont Kirchbuchner.
Entlastung der Pflegekräfte bei der Medikamentenverteilung
Ein weiteres Beispiel zur Entlastung der Pflegekräfte ist die Medikamentenstellkontrolle. Die Pflegekraft, welche die Medikamente verteilt, ist auch für die richtige Zuteilung und Dosierung verantwortlich. Oft werden die Medikamente aber in der Nacht zuvor oder von Apotheken gestellt. Dabei passieren immer wieder Fehler.
„Theoretisch hat die Pflegekraft, die die Medikamente ausgibt, Zugriff auf den Medikationsplan. Sie müsste aber jede Tablette einzeln überprüfen, was in der Praxis kaum machbar ist“, erklärt Kirchbuchner. Daher entwickelten die Forschenden ein System, das mithilfe einer Kamera die Tabletten scannt und mit einer Datenbank der verschriebenen Medikamente abgleicht. „Wir testen das System in einigen Pflegeeinrichtungen und haben schon bei der Vorstellung sehr positive Rückmeldungen erhalten“, berichtet Kirchbuchner. Es reduziere die Fehlerquote bei der Medikamentenvergabe erheblich und entlaste die Pflegekräfte.
Die Einführung moderner Technologien wie veinXam und intelligenter Medikamentenvergabe zeigt, wie viel Potenzial digitale Lösungen in der Pflege haben. Sie entlasten nicht nur die Pflegekräfte, sondern erhöhen auch die Sicherheit und Qualität der Versorgung. Kirchbuchner betont abschließend: „Unser Ziel ist es, mit intelligenten Lösungen die Pflege für die Zukunft fit zu machen.“
Weitere Informationen zur Forschungsarbeit am Fraunhofer IGD im Bereich Gesundheit und Pflege: https://fh-igd.de/sh-pflege
Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2024 zu finden.