von Sebastian Ritzi (Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg – Literatur beim Verfasser)

Foto: Sebastian Ritzi

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Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM) in der stationären Langzeitpflege ist noch immer ein aktuelles Thema. Sie treten in verschiedenen Formen wie z. B. mechanischen Vorrichtungen oder (psycho-)pharmakologischen Interventionen in Erscheinung und begleiten den Pflegealltag in vielen Pflegeeinrichtungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass täglich etwa 350.000 Maßnahmen in der stationären Langzeitpflege alter Menschen ergriffen werden, die als freiheitsentziehend zu bewerten sind. In diesem Beitrag soll der Fokus auf mechanischen Mitteln der Freiheitsentziehung liegen, die von aufgestellten Bettgittern, über Gurtfixierungsmaßnahmen im Bett bzw. (Roll-)Stuhl, bis zu angebrachten Therapie-Tischbrettern bzw. Stecktischen reichen und gemäß § 1906 BGB einer Entscheidung des Betreuers/Bevollmächtigten bzw. des zuständigen Betreuungsgerichts bedürfen.

Die Begründungen für die Anwendung von FEM in der Pflege und Betreuung alter Menschen sind vielfältig und entspringen in der Regel dem Gedanken der Fürsorge und der Sorge um das Wohl der Betroffenen: Allem voran bilden Einschränkungen in der Mobilität und das vermutete Sturzrisiko von Seiten der Pflegekräfte, das Vorliegen einer Demenzerkrankung und eine damit einhergehende erhöhte Hilfs- und Pflegebedürftigkeit begünstigende Merkmale für die Anwendung von FEM. Auch die Organisationskultur sowie die Haltung der beteiligten Akteure spielt beim Für und Wider um FEM eine maßgebliche Rolle. Wie die empirische Studienlage zeigt, werden FEM besonders häufig bei Menschen mit Demenz bzw. kognitiven Beeinträchtigungen und mit dem Ziel der Sturzprophylaxe angewandt. Zur Prävention von Sturzereignissen empfiehlt jedoch u. a. der Nationale Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege verschiedenste pflegefachliche Interventionen und verweist dabei darauf, dass die Verwendung von FEM „unbedingt vermieden werden“ solle (DNQP, 2006).

In den seltensten Fällen stellt der Einsatz von FEM eine adäquate Intervention dar. Wie ein Blick in aktuelle wissenschaftliche Arbeiten zeigt, widersprechen diese Maßnahmen in vielen Fällen dem Ideal einer ethisch-fachlich fundierten Versorgungspraxis: So konnte nachgewiesen werden, dass ein Verzicht auf FEM keine Zunahme von Sturzereignissen zur Folge hat – im Gegenteil wird das Sturzrisiko durch alternative Mittel anstelle von FEM deutlich reduziert. Ebenfalls geht mit dem Verzicht auf FEM – anders als oft vermutet – nachweislich kein erhöhter Personalbedarf einher.

Den beteiligten Akteuren ist vielfach nicht bewusst, dass es sich bei Maßnahmen wie z. B. hochgestellten Bettgittern, Sitzhosen oder Stecktischen um eine Form von Gewalt und einen gravierenden Eingriff in die Grundrechte handelt, der wiederum folgenreiche negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen und somit auf den ganzheitlichen Pflegeprozess nach sich ziehen kann. Unerwünschte Ereignisse, die durch FEM hervorgerufen werden können, reichen von gesundheitlichen Schäden wie Immobilisation, sturzbedingten Verletzungen, (erzwungener) Inkontinenz, Kontrakturen und Druckgeschwüren bis zu psychischen Folgen wie Angst, Unruhezuständen und Demütigungsgefühlen.

Da diese Risiken so schwerwiegend sind, verwundert es kaum, dass rechtlich und pflegefachlich Einigkeit darüber besteht, dass FEM ausschließlich angewendet werden dürfen, wenn sie kontinuierlich fachpflegerisch beaufsichtigt werden. Aufgrund ihres schwerwiegenden Charakters und der grundrechtlichen Einschränkung werden FEM als ultima ratio, d. h. letztmögliches Mittel klassifiziert, was im Umkehrschluss bedeutet, dass vor ihrer Anwendung alle möglichen alternativen Mittel zu erproben und evaluieren sind.

In seiner Grundsatzstellungnahme Menschen mit Demenz – Begleitung, Pflege und Therapie von 2019 nimmt der MDS das Konzept der verstehenden Diagnostik auf, das in der stationären Altenpflege zunehmend an Bedeutung gewinnt. Im Zusammenhang mit FEM beinhaltet diese Diagnostik u. a., dass (noch vor der gerichtlichen Antragstellung) die individuelle Situation der betroffenen Person im Rahmen von ganzheitlich ausgerichteten Fallbesprechungen erörtert wird. Übergeordnetes Ziel ist dabei die Vermeidung von FEM. Ein solches Vorgehen wird auch den Anforderungen der Qualitätssicherung stationärer Altenpflegeeinrichtungen gerecht, die darauf ausgerichtet ist, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses zu stärken.

In Zusammenhang mit der Erfassung bzw. Verbesserung der Lebensqualität, die durch FEM schwerwiegend beeinträchtigt sein kann, sei zudem auf das Instrument H.I.L.DE.-QS (Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz für die Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen) verwiesen: Mittels einer teilnehmenden Beobachtung von morgendlichen Pflegesituationen, mit besonderem Fokus auf dem emotionalen Ausdruck der Betroffenen sowie auf der Interaktion mit den Pflegenden, erfasst das Instrument die Lebensqualität der Betroffenen. Anschließend erfolgt ein kollegialer Austausch, bei dem Handlungsmöglichkeiten und weitere pflegerische Interventionen für die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen erwogen werden. Idealerweise sollten die Ergebnisse dieses Verfahrens in die Fallbesprechung bzgl. einer möglichen FEM einfließen. Weiterhin gilt es im multidisziplinären Austausch über physiotherapeutische Maßnahmen nachzudenken, um die Bewegungsfähigkeit der Betroffenen zu erhalten bzw. zu fördern und auch dadurch möglicherweise FEM zu vermeiden.

Doch auch durch ganz konkrete mechanischen Alternativen lassen sich FEM reduzieren. Dies schließt – folgt man der Rechtsprechung – auch solche Alternativen ein, die aktuell in der Pflegeeinrichtung möglicherweise nicht zu Verfügung stehen, jedoch aus pflegefachlicher Perspektive erforderlich und dementsprechend anzuschaffen sind.  Zu nennen sind hier besonders Niedrigflurbetten, Signalmatten, Sensoren- bzw. Bettkantensysteme, Hüftprotektoren sowie Antirutsch-Hausschuhstrümpfe.

Im Sinne eines fortlaufenden Evaluationsprozesses gilt es, alle pflegerischen Bemühungen auf die Vermeidung von FEM auszurichten, denn eine ethisch wie fachlich fundierte Pflege und Betreuung in der stationären Altenpflege, die auf FEM zu verzichten weiß, ist möglich.

Kurzinfo

Sebastian Ritzi
1. Staatsexamen, Gesundheit und Gesellschaft-Care
1. Staatsexamen, Philosophie/Ethik
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimer Straße 20
69115 Heidelberg
E-Mail: sebastian.ritzi@gero.uni-heidelberg.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2021 zu finden.

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