von Leila Haidar
Ganz gleich, ob es um Dekubitusprophylaxe, Wundpflege oder das Anlegen von Blasenkathetern geht: Das Angebot an E-Learning für Pflegepersonal ist groß. Als Ergänzung zur praktischen Ausbildung lassen sich digitale Trainings gut in den Pflegealltag integrieren. Neu und besonders praxisnah sind Qualifikationsmaßnahmen, die mit Virtual- und Augmented Reality arbeiten.
Mit der VR-Brille auf der Nase nähert sich Pflegehelfer Jasin dem virtuellen Patienten. Er kann ihn umkreisen, ihn bitten, die Arme zu heben und die Knie zu beugen. Per Knopfdruck kann Jasin einzelne Muskeln sichtbar machen, sogar einen Blick unter die Haut des animierten Mannes werfen. Fixiert er einen Punkt mit den Augen, werden der Name des Muskels und weitere Informationen eingeblendet. Der Patient macht Bewegungsabläufe vor, sodass Jasin Haut, Sehnen und Muskeln in Bewegung beobachten kann. – So könnte in Zukunft eine Anatomiestunde für Pflegeschüler aussehe
Digitales Lernen kommt immer mehr in Senioreneinrichtungen an. Häufig wird die Weiterbildung am Computer, dem Tablet oder sogar dem Smartphone zur Ergänzung von Praxistrainings eingesetzt. Das entlastet Gepflegte und Personal gleichermaßen. „In digitalen Lerneinheiten bleiben Fehler ohne Folgen. Es ist deshalb sinnvoll, in Animationen zu üben, bevor der echte Mensch ins Spiel kommt“, urteilt Sven R. Becker, Vorstand beim Experten für digitale Bildung, der IMC AG. Gerade in der Gesundheits- und Krankenpflege sieht Becker außerdem ein enormes Potential für Lerneinheiten mit der Datenbrille. In virtuellen Umgebungen oder virtuell erweiterten Umgebungen stehen lernwillige Pfleger vor alltäglichen Praxissituationen und können diese üben. Das kann bei der ersten Hilfe sein, oder um die wichtigsten Handgriffe bei der Hygiene und Hautpflege zu erlernen. Tatsächlich setzen sich die Vorteile digitalen Lernens im medizinischen Sektor mehr und mehr durch: große Flexibilität im Hinblick auf Zeit und Ort ist schließlich dienstplanfreundlich. Auszuprobieren und einzukaufen sind solche VR-Trainings zum Beispiel auf der Plattform MedicActiV.
Dieter Lerner und Thomas Luiz vom Fraunhofer Institut für Experimentelles Software Engineering haben in einer Veröffentlichung bereits die Vor- und Nachteile vom Lernen mit virtuellen Pflegebedürftigen zusammengefasst. Dabei sprechen die beiden Experten von einer erhöhten Lerneffizienz und Lerneffektivität. Außerdem ist beim Lernen mit der Datenbrille der Zahl der Patienten keine Grenze gesetzt. Auch Senioren mit seltenen Gebrechen können behandelt und betreut werden, ohne dass die Gefahr von echten Verletzungen besteht. So können sich Pfleger auch mit Situationen vertraut machen, die in der Realität nicht häufig vorkommen und daher schwer lernbar sind. Besonders erfreulich: Durch die Wiederholbarkeit der Trainings, können alle Anwendungsfälle so lange geübt werden, bis diese gefestigt sind.
Auch die europäische Region der Weltgesundheitsorganisation WHO spricht sich in ihrer Publikation From Innovation to Implementation deutlich für digitale Bildung aus und widmet dem E-Learning in Gesundheitsberufen ein ganzes Kapitel. In dieser Umfrage geben 94 Prozent der Berufstätigen in medizinischen Berufen an, dass E-Learning ihren Zugang zu Bildung und Experten verbessert. Die WHO empfiehlt Mitgliedsstaaten, E-Learning auszubauen und ermutigt dazu, den Nutzen von digitalen Bildungsangeboten auszuloten.
Lernen in der virtuellen oder erweiterten Realität kann auf unterschiedlichste Arten stattfinden, so die Experten Lerner und Luiz. Bereits in der Anwendung sind einfache Fallpräsentationen mit vordefinierten Sequenzen und Aufgaben, denen der Pflegende folgt. Noch nicht sehr häufig aber technisch möglich sind virtuelle Patienten, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, auf die Fragen und Taten des Users reagieren. Hier sind dann etwa auch Anamnesegespräche möglich. Auch Anatomieschulungen, wie im oben beschriebenen Beispiel, werden bald das Lernen in der Pflege erobern: Die Anatomie des Menschen und mögliche Abweichungen inklusive Beschriftung können dreidimensional und bewegbar dargestellt werden.
Doch bei allem Hype um die neue Technologie, birgt virtuelles Lernen auch Gefahren und Probleme. Viele Menschen leiden unter einer leichten Übelkeit, wenn sie sich in der Virtuellen Realität befinden. Auch Kopfschmerzen können die Folge sein, wenn das Gehirn Bewegung meldet, wo der Körper stehenbleibt. Gegenüber VR-Spielen, wo solche „Nebenwirkungen“ häufig zu beobachten sind, wird allerdings die Gefahr von gesundheitlichen Problemen im Schulungsbereich als sehr gering eingeschätzt. Je nach Training ist es häufig auch nicht möglich nachzuvollziehen, was der Lernende gerade sieht oder tut. Daher ist es schwierig, von außen Hilfestellung oder Feedback zu geben. Inzwischen bringt die Datenbrille häufig Apps mit, über die man das Geschehen am Smartphone oder dem Computerbildschirm verfolgen kann.
Das vielleicht größte Risiko bringt die Tatsache mit sich, dass Fehler in der virtuellen Welt folgenlos bleiben. Während es ja gerade in animierten Umgebungen erlaubt ist, Fehler zu machen, wäre dies in der Realität gefährlich. Unterschätzt nun ein User die Situation, die er aus dem Training kennt, können Gefahren falsch eingeschätzt werden. Grundsätzlich, so die Fraunhofer-Experten, überwiege aber der Vorteil des gefahrlosen Ausprobierens.
Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2020 zu finden.