von Sebastian Ritzi & Julia Schneider

Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (feM) in professionellen Sorgebeziehungen, wie z. B. in der stationären Langzeitpflege von älteren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, gehört in vielen Einrichtungen zum pflegerischen Alltag. Dabei reichen diese Maßnahmen z. B. vom Aufstellen von Bettgittern, der Verwendung von Sitzhosen oder Stecktischen bis zur Verabreichung von Medikamenten mit dem Ziel einer Ruhigstellung.

Gemäß § 1906 BGB setzt das Ergreifen dieser Maßnahmen eine richterliche Genehmigung voraus. Eine solche Genehmigung bedeutet jedoch keine Verpflichtung, die Maßnahme auch anzuwenden. Mit einer Genehmigung ist die feM erlaubt, nicht jedoch gefordert. Im Rahmen des je individuellen Pflegeprozesses gilt es, die tatsächliche Erforderlichkeit der Maßnahme fortlaufend zu evaluieren. Die Rechtfertigungen für die Anwendung von feM in Pflege und Betreuung alter Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind i. d. R. wohlgemeint: allem voran wird hier der Schutz vor Sturzereignissen und möglichen Folgen für Leib und Seele hervorgebracht.

Diese Begründung ist jedoch bei genauerem Hinsehen nicht haltbar, zieht man nationale und internationale Wissensbestände zurate. Diese sind sich einig, dass freiheitsentziehende Maßnahmen eben nicht zum Zwecke einer Sturzprophylaxe eingesetzt werden sollen. Aus einem unreflektierten und fachlich unbegründeten Umgang mit solchen Maßnahmen entsteht schnell die Gefahr, dass feM als pflegerische Selbstverständlichkeit gelten. Allerdings erweisen sie sich in vielerlei Hinsicht als fragwürdig und sind nur in den allerseltensten Fällen gerechtfertigt.

Pflegefachlich gefordert ist, dass vor der Verwendung dieser Maßnahmen eine umfassende Analyse aller möglichen alternativen Handlungskonzepte durchgeführt wird, sodass die feM die ultima ratio, d. h. das letztmögliche Mittel, bleibt. Dabei gilt es neben dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse alle beteiligten Akteure miteinzuschließen – insbesondere die betroffene Person und deren Biographie sowie deren gesetzliche Vertretung. Eine solche Prüfung, z. B. im Rahmen einer anlassbezogenen Fallbesprechung, orientiert sich nicht daran, welche Alternativen in der Einrichtung zur Verfügung stehen (Ist-Zustand), sondern reflektiert, welcher alternativen Mittel (z. B. Niedrigflurbett, Sensoren- und Sturzmatte, Lichtschrankensystem oder easy-walker) es prinzipiell bedarf, um feM zu umgehen und somit dem Auftrag einer Pflege und Betreuung nach aktuellen Erkenntnissen gerecht zu werden (Soll-Zustand). Folgt man der aktuellen Rechtsprechung, gehören z. B. Niedrigflurbetten (die eine effektive Alternative zu Bettgittern darstellen können) nach dem anerkannten Stand der Wissenschaft zur Grundausstattung einer stationären Pflegeeinrichtung. Finanzielle Erwägungen dürfen in diesem Rahmen keine Rolle spielen. Die Anschaffung alternativer Mittel, wie z. B. eines Niedrigflurbetts, ist bei Erforderlichkeit von der Pflegeeinrichtung oder den sozialen Kostenträgern zu tragen.

Häufig ist die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Arbeitspraxis mit Hindernissen verbunden. Im vorliegenden Sachverhalt, der Reduktion von feM, erschweren vor allem folgende Aspekte diese Umsetzung: Sorge um und Verantwortung für die Sicherheit von Bewohnern, unklare und inkonsistente Definitionen von feM, Schwierigkeiten beim Übergang von der Akzeptanz zur Unterlassung von feM sowie mangelnde Ressourcen und ein Wissensdefizit. Die Verbreitung von feM variiert von Einrichtung zu Einrichtung. Dieser Umstand ist wider Erwarten nicht am Personalschlüssel festzumachen. Vielmehr ist es die gelebte Pflegekultur, die entscheidend dazu beiträgt, ob feM Anwendung finden oder nicht. Angesprochen sind hier die Pflegekonzeption, das Risikomanagement und besonders die Haltung sowie die Fachkenntnisse des Personals. Aus diesem Grund zielen die meisten Bildungsmaßnahmen zur Reduktion von feM auf eine positive Veränderung der Einstellung und Haltung Pflegender gegenüber feM ab. Systematische Übersichtsarbeiten deuten darauf hin, dass sich die Einstellung und Haltung Pflegender gegenüber feM in den letzten zwei Jahrzehnten kaum verändert hat. Auch wenn einige Studien die Effektivität von Mitarbeiterschulungen stützen, ist die Evidenz in ihrer Gesamtheit widersprüchlich.

Es lässt sich schlussfolgern, dass Schulungen allein nicht ausreichen, um feM zu reduzieren und die Pflegepraxis dauerhaft zu verändern. Gestärkt wird diese Annahme durch die Leitlinie FEM (2015), die empfiehlt, Schulungen nur in Kombination mit weiteren Maßnahmen durchzuführen. Aus welchen und wie vielen Komponenten ein solches Maßnahmenbündel bestehen sollte, ist wissenschaftlich noch nicht eindeutig erschlossen. Es wird darauf hingedeutet, dass es neben klassischen Schulungen auch geschulter Multiplikatoren und unterstützender Materialien für Pflegende sowie evidenzbasierter Leitlinien bedarf. Darüber hinaus spielen eine gute Teamkultur sowie kompetente und motivierte Leitungskräfte, eine wesentliche Rolle auf dem Weg zu einer Pflegepraxis, die auf feM zu verzichten weiß.

Kurzinfo

Foto: Julia Schneider

Foto: Julia Schneider

Julia Schneider
1. Staatsexamen, Gesundheit und Gesellschaft-Care
1. Staatsexamen, Sport
Netzwerk Alternsforschung
Universität Heidelberg
Bergheimerstraße 20
69115 Heidelberg
E-Mail: schneider@nar.uni-heidelberg.de

Foto: Sebastian Ritzi

Foto: Sebastian Ritzi

Sebastian Ritzi
1. Staatsexamen, Gesundheit und Gesellschaft-Care
1. Staatsexamen, Philosophie/Ethik
Institut für Gerontologie
Universität Heidelberg
Bergheimerstraße 20
69115 Heidelberg
E-Mail: sebastian.ritzi@gero.uni-heidelberg.de

Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2019 zu finden.

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