von Frederik Haarig und Rüdiger Jezewski

Beziehungen zu anderen Menschen sind ein wichtiger Teil des Lebens. Sie entstehen aus sozialen Interaktionen, welche sich über Verhaltensketten beschreiben lassen. Dies bedeutet, dass das Verhalten einer Person immer als Reaktion auf das vorherige Verhalten einer anderen Person zu verstehen ist und somit eine Kette an aufeinanderfolgenden Verhaltensweisen entsteht.

Um Beziehungen objektiver beschreiben zu können, werden Interaktionsmuster und Beziehungsschemata genutzt. Ein Interaktionsmuster beschreibt hierbei immer eine Dyade (zwischen zwei Personen).

Aus alltagspsychologischer Sicht wird von einer Beziehung gesprochen, wenn bei zwei Personen ein oder meist viele stabile Interaktionsmuster vorliegen (Asendorpf et al., 2017; Hinde, 1993). Laut Baldwin (1992) sind zusätzlich zu stabilen Interaktionsmustern drei kognitive Repräsentationen für eine Beziehung notwendig: das Selbstbild, das Bild der Bezugsperson sowie Interaktionsskripte. Das Selbstbild ist die Vorstellung über die eigene Person, während das Fremdbild die Vorstellung über die andere Person ist.

Was sind Faktoren von Beziehung?

Es existieren unterschiedliche Möglichkeiten, Beziehungen zu klassifizieren und zu beschreiben:

  • Art des Beziehungsmusters (Asendorpf, 2017),
  • Enge und Nähe mit der jeweiligen Person (Kelley et al, 1983),
  • Bindung als wesentliche Basis für einen gefühlsbezogenen Umgang sowie
  • Unterstützung zur individuellen Förderung von Menschen (bspw. zu Pflegenden; Asendorpf, 2017).

Beziehung in der Versorgung von Demenz-Betroffenen

Wir beschreiben Beziehung zurecht als psychologisches Muster, als Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Dabei werden Faktoren geordnet, die sich u. a. zu Rollen entwickeln, die wir einnehmen und aus deren Verständnis wir Beziehungen vorrangig kognitiv leben, steuern, bewerten, neudenken und anpassen. Ein Meister seines Fachs muss man sein, um dies erfüllen zu können. Beziehungen, oder besser formuliert der Beziehungsstatus, erfordern ständige Neujustierung im Wirrwarr dieses Zusammenlebens. Und das wissen wir sehr genau, nicht umsonst benötigen wir in fast allen Lebenslagen professionelle Hilfe und Unterstützung psychologischer Art, um zerbrochene, festhakende oder nicht erfüllte Beziehungen doch noch zu erfahren. Also eine Sehnsucht in uns nach einem Stand und Status, der im Bedeutungskern nur die Beziehung als einen sehr hohen Wert sieht und nicht deren Nutzen.

Stellen wir uns vor: Wenn aufgrund einer Demenzerkrankung viele für uns wichtige kognitive Fähigkeiten verloren gehen, dann beginnen auch die sonst so wichtigen Bewertungen an Wert zu verlieren. Aus der Erfahrung und Beobachtung heraus ist das in Bezug auf Beziehung aber nur der erste Schritt. Zuerst, ganz offensichtlich ist der Verlust da. Unwiederbringlich, irreparabel und nicht heilbar! Die Erkrankten leiden unter dem „Verlieren“ in verschiedenen Formen. Es hört in der Regel auch nicht auf, da ein neues Symptom auftritt. Ein sehr klassisches Beispiel ist das Verkennen von vertrauten Personen (desorientiert zur Person). Beginnend mit Verwechselungen von Bekannten und Freunden, später verwischen die natürlichen Generationsgrenzen der Familie bis hin zum Nichterkennen von den eigenen Kindern oder Ehepartnern. Es ist nicht so, dass dies einmal auftritt. Nein, sie sind leider dauerhaft mit diesem Thema konfrontiert und müssen lernen damit umzugehen. Lernen bedeutet in diesem Kontext etwas völlig anderes – existieren zu können.

Wie würden Sie mit weniger Denken Ihren Alltag meistern? Gar nicht und wenn, dann nicht meistern, sondern irgendwie den Dschungel durchforsten. So ähnlich kann die Realität aussehen. Stellen wir uns weiter vor, jetzt in Beziehung treten zu wollen: Mit wem eigentlich?

Was es im Alltag bedeutet, nicht nur unfähig zu gelten (Familie, Gesellschaft), sondern es selbst zu erleben, lassen Menschen mit Demenz (MmD) die klassischen Beziehungsmuster und Beziehungskulturen einfach „links-liegen“. Sie können und manchmal wollen sie diese nicht mehr bedienen. Es gelten für sie wirklich andere Werte. Ob diese bewusst oder eher unbewusst deutlich werden, kann nicht genau gesagt werden, allerdings ist zu konstatieren, dass sie zu Tage treten und wichtig sind.

Es treten viel stärker verschiedene Bedürfnisse in den Vordergrund, die den Alltag bestimmen. Neben den existenziellen, neurologisch- und krankheitsbezogenen auch die nach Kitwood (2019) benannten psychischen Urbedürfnisse eines jeden Menschen (Startbild).

Die folgende Tabelle beschreibt diese Bedürfnisse mit dem emotionalen Wert, der in der Arbeit mit MmD wichtig erscheint. Aus den nach Kitwood geprägten Urbedürfnissen sind Gefühle abgeleitet, die Handlungsrelevanz haben und einen Stellenwert in Bezug auf die Begleitung von MmD ausdrücken.

psych. Urbedürfnis MmD
nach Kitwood (2019)
Gefühl MmD
Emotionaler Wert
Bedeutung & Auftrag an Begleiter
TrostMein LeidGemeinsam Verstehen, nicht verurteilen
IdentitätIch bin …!?Identität erkennen, schaffen und lassen
BeschäftigungIch kann etwas selber tun, etwas verbessern …Beschäftigungen ermöglichen und anzuerkennen
EinbeziehungIch will für mich…Selbstbestimmung im Kontext von Beziehung, z. B. Kontaktaufnahme mit Berührung
BindungIch bin nicht allein.Bindung bedeutet Orientierung geben. Das Nicht-Alleinsein ist die größte nonverbale Methode, um Orientierung zu geben (z. B. Pflegeoase)
LiebeIch bin so, wie ich bin.Ich nehme dich an, so wie du bist!

Überlegungen der Autoren zur Beziehungsgestaltung (Jezewski & Haarig, 2020)

Nach dieser Hypothese ist der scheinbar radikale Beziehungsmusterwechsel, den MmD vornehmen, sinnvoll und für sie sehr praktisch. Sie erfahren dadurch notwendige Orientierung auf der emotionalen und der kognitiven Ebene, sozusagen „Zeit zum Leben“.

Fazit:

Beziehung bleibt. Auch unser grundsätzliches Verständnis von Beziehung ist nicht durch die Demenz gefährdet, eher gefordert, sich in diesen Situationen auf den Kern, das Wesentliche zu konzentrieren: Sei Beziehung ohne Erwartung und Nutzen, akzeptiere diesen Nullpunkt als wertvollste Ergänzung deiner selbst.

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2021 zu finden.

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