Wiedersehen mit einem außergewöhnlichen Altenpflegeheim in Leutenberg (Thüringen)

Von Harry Jost


Frau Marion Stieler hat jahrelang als Zuständige für Altenpflege der evangelischen Kirche in Thüringen Pflegeheime beraten, Neubau- und Umbaukonzepte entwickelt, selbst ein Heim geleitet, aber immer im Hinterkopf das eigene Haus gehabt. Das Betriebsmodell Wohngemeinschaften hat sie von Anfang an mit größtem Interesse verfolgt. Im Oktober 2011 ist ihr Haus am Bahnhof in Leutenberg eröffnet worden. Und was für ein Haus. Wie auch immer die Generationen der Heime beim KDA weitergezählt werden, dieses Haus ist ohne Beispiel. Wohnen im Pflegeheim, eine alte Forderung, aber wie umsetzen in einem organisierten Haus das mit Pflegefunktionen und Betriebskosten alle Hände voll zu tun hat? Normalität ist das Rezept. Hier wird es gelebt.

Sprechendes Symbol dafür ist der Wäscheständer auf der Terrasse im 1. OG. Die Waschmaschinen verarbeiten die gesamte Wäsche, nichts geht aus dem Haus. Jedes der zwei Geschosse hat einen Waschraum mit 10 kg Maschine und Trockner. „Wie zu Hause“ könnte man die Situation überschreiben. Gekocht wird in jeder Hausgemeinschaft, alles, mit eigenem Speiseplan. Was natürlich die Spannung erhält, was die andere Hausgemeinschaft isst, weil das Andere bekanntlich immer etwas begehrlicher ist. 13 Personen wohnen auf einer Ebene, also 26 BewohnerInnen im ganzen Haus. Das Zentrum ist das Esszimmer mit Küche. Hier beginnt der Tag mit Frühstück, dessen Uhrzeit jede(r) selbst bestimmt. Der Morgen kann für die BewohnerInnen fließend in die Zeit des Mittagessen Kochens übergehen. Einfach sitzen bleiben, Zuschauen, hören, riechen, reden. Die Alltagsbegleiterin bereitet alle Speisen auf dem 4 Plattenherd zu, die Mikrowelle bleibt in der Regel kalt.

Bei meinem Besuch, knapp 3 Jahre nach Abschluss unserer Baumaßnahme, wurde für den Sonntag Schweinebraten frisch zubereitet, verlockende Düfte regen nicht nur die Sinne des ehemaligen Planers an. Da mag man gerne am großen Tisch sitzen. Frau Huber schneidet eine Zwiebel klein für die Bratensauce. Sie macht sich gerne nützlich. Wie oft haben wir mit Heimpersonal diskutiert ob die berühmte Kartoffel von den BewohnerInnen noch geschält werden kann, oder ob das Sozialromantik ist. Hier ist die Mitarbeit gelebter unspektakulärer Alltag, praktische Normalität.

Der große Tisch war schon beim ersten bundesweit größeren Hausgemeinschaftsprojekt in Schildau Konzept. Alle 13 BewohnerInnen plus Pflegepersonal versammeln sich um den langen Tisch, der Platz hat für alle, auch für die RollstuhlfahrerInnen. Gibt es Spannungen zwischen zwei Personen, muss man die Plätze neu verteilen, was sich als sehr schwierig herausgestellt hat. Ein Platz an der Tafelrunde wird nicht ohne weiteres aufgegeben. Der ist eine feste Größe im Leben der BewohnerInnen. Das Esszimmer öffnet sich im EG zu einem offenen Außenbereich und weiten Garten. Manchmal fährt das Bähnchen aus Erfurt in den Bahnhof ein oder lange schwere holzbeladene Züge fahren rumpelnd vorbei. Im 1. OG öffnet sich der Essraum zu einer großen Terrasse nach Süden.

Das (Wohn-) Esszimmer im Pflegeheim ist nicht der einzige Aufenthaltsort. Links und rechts des Essraumes befindet sich je eine „halbe“ Hausgemeinschaft, als kleine Wohnung mit 6 bzw. 7 Zimmer. WC und Dusche sind nicht in den Zimmern eingebaut, sondern Teil der Wohnung, wie zuhause. So teilen sich 6 bzw. 7 Bewohner 2 WCs bzw. Duschen. Im Betrieb kein Problem, die Privatheit des Zimmers bleibt erhalten. Die WC/Duschen-Infrastruktur reicht für die 6 bis 7 Personen völlig aus.

Duschen war für viele Bewohnerinnen nie tägliche Routine. Attraktiver ist für sie das Baden im Pflegebad. Hier wird nach festem Fahrplan gebadet, eine spezialisierte Kraft bietet auch Spezialbäder an, z.B. mit Haferflocken!

Ergänzt werden diese 2 kleinen Wohnungen, gruppiert um das zentrale Esszimmer, durch je eine Stube. Möbliert mit alten Möbeln mag man sich gleich aufs Sofa flegeln, ein Buch vom Regal nehmen und es sich gut gehen lassen.

Sind wir hier im Urlaub? Am Bahnhof stehen Touristen mit Ihren Fahrrädern und warten auf das Bähnchen.

„Geht dieses Wohnmodell auch für große Häuser“ frage ich Frau Stieler? Das lebt doch davon, dass Sie den Geist prägen, das Konzept vermitteln, durchhalten. Hier gehen Dinge, die woanders als wirtschaftlich nicht umsetzbar gelten. „Klar geht das auch in großen Häusern“ sagt sie ohne zu zögern. „Manchmal gehe ich auch meinen MitarbeiterInnen auf die Nerven, wenn ich wieder sage: „Das ist das Konzept!“. Es kommt auf die Heimleitung an und deren Wille und Fähigkeit Normalität und Zuhause zu leben. „Ich hatte auch Mitarbeiterinnen die dieses Konzept ablehnen und lieber in einem konventionellen Haus arbeiten. Das kann man akzeptieren“.

Ein außergewöhnliches Haus, keine „Nasszellen“ in den Zimmern, Kleinwohnungen mit 6 bis 7 Plätzen, autarker Betrieb jeder Hausgemeinschaft mit 13 Leuten, was Essen, Alltagsbegleitung, Pflege, Waschen betrifft. Braucht es da noch eine 5. Generation Pflegeheime? Ein Besuch bei Frau Stieler lohnt sich. Kann man ohne das in den meisten Bundesländern bestehende Dogma, jedes Zimmer eine Nasszelle, ein Pflegeheim betreiben ohne sich des Vorwurfs der Rückständigkeit auszusetzen? Bei diesem Haus sind zwei Faktoren zusammen gekommen, das architektonische Konzept der zwei Kleinwohnungen um das zentrale Esszimmer mit Kochen/Spülen und das Betriebskonzept des gelebten Alltags. Keines geht ohne das Andere. Häuser unter 80 Plätzen sind nicht wirtschaftlich? Nach Thüringen reisen und erfahren wie es geht.

In Ergänzung zum Pflegeheim hat Frau Stieler im ehemaligen Bahnhofsgebäude eine Tagespflege für 12 Personen eingebaut. Der frühere große Mitroparaum ist nun ein heller und freundlicher Aufenthaltsbereich mit kleiner Küche. Hinter dem erhaltenen gläsernen Fahrkartenschalter befindet sich der Ruheraum. Pflegeheim und Tagespflege gut auf einander angestimmt.

Harry Jost, Geschäftsführer Jost Consult, Generalplanung Pflegeheim, www.jostconsult.de

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