Modellprojekt zur Fachkräftegewinnung in der Altenpflege
Der demografische Wandel stellt die Gesellschaft vor eine große Herausforderung. Nach aktueller Expertenmeinung wird die Zahl an pflegebedürftigen Menschen in Deutschland von derzeit ca. 2,3 Millionen auf rund 3,4 Millionen Personen im Jahr 2030 ansteigen. Bereits heute bestehen größere Schwierigkeiten, offene Stellen im Pflegebereich mit qualifizieren, gut-ausgebildeten Kräften zu besetzen. Auch die Gewinnung von geeignetem Nachwuchs wird zunehmend kritischer. Die Frage, wer zukünftig die Pflege für ältere und kranke Menschen übernehmen soll, steht im Raum. Denn mittel- bis langfristig wird es nicht gelingen, denn Bedarf an Fachkräften selbst zu decken.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) hat diesen anhaltenden Negativtrend in der Pflegebranche erkannt und u.a. gemeinsam mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein Modellprojekt zur Gewinnung von Fachkräften im Bereich der Altenpflege initiiert. Ziel ist es, motivierte Personen aus Drittstatten für eine Altenpflegeausbildung in Deutschland zu gewinnen. Partner für dieses engagierte Vorhaben ist Vietnam. In dem fernöstlichen Land ist die Unterstützung groß, auch von Seiten der Regierung, denn Deutschland genießt dort ein sehr hohes Ansehen.
Zunächst startete das Pilotprojekt Anfang 2013 in Hanoi mit etwa 160 Teilnehmern. Die potenziellen Auszubildenden durchliefen bereits eine zum Teil akademische Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Innerhalb von sechs Monaten wurden ihnen im ersten Schritt grundlegende Deutschkenntnisse durch einen intensiven Sprachkurs vermittelt. Nach den beiden zu bestehenden Sprachprüfungen reduzierte sich die Anzahl auf rund 120 Teilnehmer.
In Deutschland starteten die Vorbereitungen für die „heiße Phase“ des Vorhabens im Frühjahr 2013. In insgesamt vier Modellregionen Berlin, Niedersachen, Bayern und Stuttgart konnten sich Altenpflegeeinrichtungen für das Projekt bewerben. Auf diesem Weg stieß auch die Württembergische Schwesternschaft vom Roten Kreuz e. V. (WSSRK) als Träger des Regine-Köhler-Heims in Stuttgart zu dem Modellprojekt. Ende Mai stand fest, fünf vietnamesische Auszubildende im Alter zwischen 22 und 24 Jahren, würden ab Herbst 2013 den Alltag im Regine-Köhler-Heim bereichern.
„Natürlich hat es uns sehr gefreut, für dieses Pilotprojekt des Bundeswirtschaftsministeriums ausgewählt zu werden.“, äußert sich Oberin Barbara Morlock-Schicks über die damalige Zusage. Denn auch für die WSSRK wird es zunehmend herausfordernder geeignete Auszubildende im Bereich der Altenpflege zu mobilisieren. „Es ist für uns wichtig, kontinuierlich ausreichend Fachkräfte für unsere Einrichtungen, vor allem auch für unseren Neubau in Sindelfingen, zu gewinnen. Nur so können wir unseren Bewohnern eine qualitativ hochwertige und menschliche Pflege bieten.“, beschreibt Oberin Morlock-Schicks die Beweggründe an dem Pilotprojekt teilzunehmen.
Im Raum Stuttgart absolvieren seit September 2013 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine auf zwei Jahre verkürzte Ausbildung in der Altenpflege. Zunächst starteten die Schüler im vergangenen Oktober in die Theoriephase, sechs Wochen später stand die erste Praxisphase an. „Die größte Schwierigkeit zu Beginn war die Sprachfähigkeit unserer fünf Schülerinnen. Wir wussten, dass die Vietnamesinnen mit Sprachniveau A2 ankommen werden – wirklich etwas darunter vorstellen konnten wir uns nur bedingt“, erinnert sich Birgit Kohlweiler, Heimleitung der Einrichtungen der WSSRK, an die ersten Eindrücke zurück.
Zu Beginn erfolgte die Kommunikation mit den neuen Auszubildenden noch größtenteils über Zeichensprache oder mittels Übersetzungshilfen aus dem Internet. Doch die Sprachfortschritte sind gut erkennbar. Die Motivation und Entschlossenheit, diese herausfordernde Ausbildung zu meistern, sorgte beim gesamten Team für Begeisterung und Achtung vor den Neuen. Bis oft spät in die Nacht lernen die fünf Vietnamesinnen, welche alle eigene Zimmer im Erdgeschoss der Einrichtung von der Rotkreuzschwesternschaft gestellt bekommen. „Um die ersten Tage und Wochen für unser bereits bestehendes Pflegeteam zu erleichtern, haben wir alle Stationszimmer mit Deutsch/Vietnamesisch-Wörterbüchern ausgestattet und vorab unsere Pflegekräfte entsprechend geschult“, berichtet Frau Kohlweiler. „Uns war von Beginn an bewusst, dass dieses Projekt für alle Beteiligten mit großen Anstrengungen verbunden sein würde.“ Nicht zuletzt aufgrund des kontinuierlichen Deutschkurses, welchen alle 32 Teilnehmer seit ihrer Ankunft in Deutschland besuchen, ist die Einteilung in den Dienstplan sowie die Zuteilung eines Praxisanleiters schwierig.
Die rund 33 Bewohner des Regine-Köhler-Heims, zumeist stark dement, haben die fünf vietnamesischen Schülerinnen positiv aufgenommen. „Mein erster Gedanke, war mehr Hände, die helfen bedeutet auch mehr Zuwendung. Die fünf Frauen sind immer am lächeln, immer freundlich. Sie strahlen eine Seelenruhe aus. Man merkt, dass sie große Achtung vor älteren Menschen haben“, berichtet Frau Haaga, deren Mutter in der Einrichtung lebt, von ihren Eindrücken und fügt hinzu: „Für meine Mutter ist das ein wahrer Segen.“ Die offene Art der Vietnamesinnen hilft auch über noch vorhandene Sprachdefizite hinweg. Claudia Heinze, Pflegedienstleitung der Einrichtung, über die ersten Praxistage: „Berührungsängste, gerade bei unseren demenziell erkrankten Bewohnern, hatten unsere Schülerinnen nicht. Man merkt die Wertschätzung, die sie den Menschen entgegenbringen.“
Nach abgeschlossener Ausbildung können die dann examinierten Altenpfleger noch für drei Jahre in Deutschland arbeiten – auch drüber hinaus ist denkbar. „Es wäre natürlich sehr wünschenswert, die fünf Frauen länger für unsere Rotkreuzschwesternschaft und ein Leben in der Region Stuttgart begeistern zu können. Wie sich dies jedoch konkret entwickelt, wird die Zeit zeigen.“
Autor: Katrin Keßler
Fotos: WSSRK/Keßler