Management der stationären Pflege:

Eine Mangelverwaltung

Von Claire Désenfant

Immer wieder weist die breite Presse auf Missstände in Altenpflegeheimen hin. Mit diesen Vorwürfen wird nicht nur intendiert, dass alle Pflegeheime schlecht arbeiten würden, sondern auch dass der anzutreffende Personalmangel den Profitmaximierungszielen des Managements geschuldet sei.

Es wird endlich Zeit, mit diesen falsch gezogenen Schlüssen aufzuräumen. Neben dem Fachkräftemangel droht nämlich alsbald ein Leitungskräftemangel, denn immer mehr wollen die Branche wechseln: Heimleitungen haben es zunehmend satt, einerseits als Mangelverwaltungen arbeiten zu müssen und obendrein den schwarzen Peter eben für diesen Mangel durch die Öffentlichkeit zu bekommen.

Ein Vergleich zwischen dem zeitlichen Pflegeaufwand in den einzelnen Pflegestufen gem. § 15 SGB XI und der Personalbesetzung in der stationären Pflege gem. § 75 SGB XI lohnt sich, auch wenn (oder gerade weil?) der GKV-Spitzenverband solchen in seinem Rundschreiben verbietet.

Im § 15 SGB XI werden die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Pflegestufe durch Festlegung der täglichen Mindestunterstützungszeiten für Pflege und Betreuung durch eine Laien-(Grund)pflege geregelt.

Eine übliche stationäre Pflegeeinrichtung von 80 Bewohnern mit einer Belegungsquote von 97 % sei vorausgesetzt, deren Pflegestufen dem Bundesdurschnitt (Destatis- Jahr 2011) entsprechen. Gem. § 15 SGB XI benötigen Bewohner der Stufe I durchschnittlich 83 Minuten täglich Unterstützung (Anleitung, teilweise Übernahme oder vollständige Übernahme der Verrichtungen) für Körperpflege, Ernährung und Mobilisation. Ein Bewohner der Stufe II 180 und der Stufe III 300 Minuten. Die Basis dieser Zeiten ist die s. g. Laienpflege, d. h. Pflege zu Hause durch ungeschulte Personen. Der durchschnittliche Zeitbedarf der Bewohner für Pflege und Betreuung dieser Einrichtung mit 80 Plätzen wäre demnach 217 Stunden pro Tag. Die Laienpflege kann zwar Synergieeffekte einer vollstationären Einrichtung nicht nutzen. Sie hat aber keine Dokumentationspflichten, sie muss keine Dienstpläne organisieren und Hygienevorgaben einhalten, ebenso kein Qualitätsmanagement etc. führen. Die Laienpflege übernimmt auch keine Behandlungspflege. Diese wird bekannter Weise im stationären Kontext nur dann nach § 37 SGB V finanziert, wenn sie im erheblichen Umfang anfällt. Die Zeiten der „üblichen“ Behandlungspflege werden allenfalls berücksichtigt, wenn sie zusammen mit einer Leistung der Grundpflege erfolgen. Die Behandlungspflege wirkt sich also nur im Grenzbereich zwischen zwei Pflegestufen finanziell aus. Die restlichen (und überwiegenden) behandlungspflegerischen Leistungen werden unentgeltlich, so zu sagen „ehrenamtlich“ erbracht.

Dieser Vergleich zwischen Laien- und professioneller Pflege deutet darauf hin, dass die zahlreichen zusätzlichen Aufgaben einer stationären Einrichtung die Zeiteinsparungen durch Synergieeffekte und Fachlichkeit in hohem Maße kompensieren. Hierbei ist außerdem anzumerken, dass die Dauer vieler Verrichtungen durch den Bewohner, seinen Wünschen und Möglichkeiten bestimmt wird, und somit durch eine professioneller Pflege nicht reduziert werden können und sollten.

Der Zeitbedarf von 217 Stunden pro Tag für Pflege und Betreuung dieser üblichen Einrichtung (80 Plätze) kann in Vollzeitstellen (VZS) ausgedrückt werden. Bei einer effektiven Arbeitszeit von 1.599 Stunden p. a. ergeben sich 50 VZS.

Aus der nebenstehenden Graphik wird ersichtlich, dass dieser tägliche Zeitbedarf gem. § 15 SGB XI mit Nichten durch die Personalvorgaben aus den jeweiligen Rahmenverträgen für die stationäre Pflege nach § 75 SGB XI für die Bundesländer Baden-Württemberg und Brandenburg abgedeckt wird.

 

Anhand dieser Darstellung wird klar:

1. Einrichtungen in Baden-Württemberg, Bundesland mit den besten Personalvorgaben gem. Landesrahmenvertrag, müssten 50 % mehr Personal für Pflege und Betreuung haben,

2. Einrichtungen in Brandenburg, Bundesland mit den schlechtesten Personalvorgaben gem. Landesrahmenvertrag, müssten gar 83 % mehr Personal, also fast doppelt so viel, bekommen.

Auch wenn das Argument der Laienpflege herangeführt wird, diese Diskrepanz spricht Bänder.

Der chronische Personalmangel in der stationären Pflege ist Struktur bedingt: alle Leistungen müssen nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot gem. § 29 SGB XI erbracht werden: Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen. Es wird, nach fast 20 Jahren Pflegeversicherung, endlich mal Zeit, dieses Maß des Notwendigen zu definieren. Skandalös ist, dass unterschwellig, das Management oder die Träger für diesen Personalmangel verantwortlich gemacht werden. Fakt ist aber, dass die Personalschlüssel per Rahmenvertrag oder Landespflegesatzkommission festgelegt werden und dass die Sozialhilfeträger, die die ungedeckten Kosten übernehmen müssen, sich mehr Personal gar nicht leisten können.

Die Politik kann nicht einerseits eine bessere Qualität der Leistungserbringung einfordern, diese immer schärfer kontrollieren und gleichzeitig die Grundlage für eine bessere Qualität, sprich mehr Personal, verweigern. Wissenschaftlich valide Personalbemessungsverfahren müssen dringend umgesetzt und deren Finanzierung sichergestellt werden. Mit einem solchen Personalbemessungsverfahren würden die Voraussetzungen der Bundesländer ähnlich sein. Ein alter pflegebedürftiger Mensch braucht nämlich unabhängig von seinem Wohnort die gleiche Unterstützung. Es müsste egal sein, ob er in Brandenburg oder in Baden-Württemberg lebt. Dem ist derzeit aber nicht so. Und dieses ist der zweite Skandal.

Ein Bundes-Vergleich der Bestimmungen zur Personalausstattung in der stationären Pflege zeigt deren „Diversität“. Dieser kann nur anhand einer fiktiven durchschnittlich großen Einrichtung durchgeführt werden, denn 16 Bundesländer haben 16 verschiedene Bestimmungen zu Personalschlüsseln. Manche haben die Personalrichtwerte im Rahmenvertrag festgelegt, andere haben diese über die Pflegesatzkommission vereinbart. Manche fahren nach einem Personal-Korridor, andere nicht. Manche haben zusätzliche Stellen für bestimmte Funktionen, andere nicht. Und: kein Bundesland hat ein Personalbemessungsverfahren umgesetzt.

Ein direkter Vergleich der Personalrichtwerte der einzelnen Bundesländer kann also nur über eine fiktive Standard-Einrichtung erfolgen, z. B.: 80 Plätze, Belegungsquote von 97 %, Pflegestufenverteilung entsprechend dem Bundesdurchschnitt (Destatis 2011): 38 % in Stufe I, 41 % in Stufe II und 21 % in Stufe III. Soll eruiert werden, welche Freiheiten die jeweiligen Heimleitungen haben, um ihre marktpolitischen Entscheidungen zu treffen, ist in den Ländern mit Personalbandbreiten die höchstmögliche Personalausstattung zugrunde zu legen. Die in manchen Ländern vorgegebenen zusätzlichen Stellen für PDL, QM, Sozialarbeit, Schüleranleitung, etc. sind zu berücksichtigen.

Das Ergebnis (siehe Deutschland-Karte) zeigt, dass Brandenburg über die geringste Personalausstattung verfügt, während Sachsen die höchstmögliche erreichen könnte. Hierbei sei angemerkt, dass die in Sachsen festgelegte Personalbandbreite kaum ausgeschöpft wird, wie die tatsächlich erzielten Entgelte für Pflege und Betreuung bestätigen: die Pflegesätze lagen dort 2011 bis zu 21 % unter dem Bundesdurchschnitt. Das Bundesland mit der bestmöglichen Personalausstattung ist also Baden-Württemberg. Dort gilt ebenso eine Personalbandbreite, die im Gegensatz zu Sachsen vielfach nach oben ausgereizt wird. Die dortigen Einrichtungen können bis zu 24 % mehr Personal refinanziert bekommen als in Brandenburg, obwohl die Personalausstattung in Baden-Württemberg bei Weitem nicht ausreicht!

Die Güte einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit den Schwachen umgeht. Wann wird die Politik diesen Missstand beheben?

Halten Sie sich auf dem Laufenden!

Unser Newsletter ist exklusiv für Einkauf und Management von Senioreneinrichtungen und Trägergesellschaften gedacht und erscheint quartalsweise. Melden Sie sich jetzt an!

Seniorenheim-Magazine 02/2023 und 01/2024