Innovative Altenpflegeheimkonzepte am Beispiel eines deutsch-kanadischen Altenpflegeheims

Problem- und Fragestellung

Fotos: Helen Schneider


Die Auswanderungsbereitschaft steigt in Deutschland stetig an (vgl. Ette/ Sauer, 2010). Vermeintlich höhere Berufschancen und steigende Lebensqualität sind zwei der zentralen Gründe für die Bereitschaft, das eigene Land zu verlassen (vgl. Aengenvoort, 1999). Weit weniger stehen im Fokus vieler Auswanderer die Konsequenzen, die ein Leben in einem anderen Land beinhaltet. Sprachliche Barrieren, die Loslösung vom sozialen Umfeld im Heimatland und veränderte Rahmenbedingungen hinsichtlich des Gesundheits- und Sozialsystems im neuen Wahlheimatland sind nur einige Hürden, die den Menschen im Zuge der Auswanderung begegnen. Hinzu kommt der Aspekt des Alterns in einem anderen Land, in dem sich auch die Umsetzung der pflegerischen Versorgung von der des Heimatlandes unterscheidet. Grund genug, die Perspektive alter und pflegebedürftiger Menschen in den Fokus zu rücken, die auf entsprechende Erfahrungswerte blicken können. Zwar gibt es bereits einige Publikationen zu diesem Themenbereich. „Doch werden die Seniorinnen und Senioren hierdurch (oft) auf die Merkmale „Migration“ und „Alter“ reduziert. Ein kleines Gegengewicht bilden demgegenüber Veröffentlichungen, in denen Individuen zu Wort kommen und ihre Migrationsbiografie erzählen. Die qualitativen Darstellungen sind Zeugnisse bewegender Erlebnisse und Geschichten. Zudem offenbaren sie manchmal durch die Augen der Eingewanderten einen Blick auf in Deutschland alltägliche Situationen, die ihrer unhinterfragten Normalität enthoben werden und so durchaus seltsam anmuten können“ (Fuchs, 2015, S. 11 f.). Der vorliegende Beitrag beinhaltet die Zusammenfassung einer Studie, die in einem deutschsprachigen Altenpflegeheim in Kanada durchgeführt wurde.

Ziel

Das Ziel dieses Beitrages ist es, herauszuarbeiten, wie alte und hochbetagte Menschen rückblickend den Verlauf ihrer Auswanderung, ihrer Integration in Kanada und ihr heutiges Leben in einem Pflegeheim in einem anderen Land mit einem anderen Gesundheitssystem reflektieren und beschreiben. Die Studie ging dabei der Frage nach, in welcher Weise deutsche Auswanderer aufgrund ihres Migrationshintergrundes und des kanadischen Gesundheitssystems in ihrer Situation als pflegebedürftige alte Menschen beeinflusst werden.

Erhebungsmethode

Um dieser Fragestellung nachzugehen, wurden insgesamt 7 qualitative Interviews geführt und 108 handgeschriebene Biographienotizen der Sozialarbeiter über die Bewohner ausge-wertet.

Foto: Helen Schneider

Ergebnisse

Interessant ist, dass fast alle Bewohner und Mitarbeiter deutsche Wurzeln aufweisen. Deshalb wird im Altenpflegeheim nur selten die englische Sprache verwendet. Das Heim wurde von deutschen Migranten gegründet und zunächst ausschließlich für deutsche Pflegebedürftige konzipiert. Der kanadische Staat besteht aber seit einigen Jahren darauf, dass das Heim auch kanadische Bewohner aufnimmt. Diese werden von einigen deutschen Bewohnern als Ausländer beschrieben, die die deutsche Sprache nicht sprechen können. Es zeichnet sich damit ab, dass in diesem Heim eine Art deutscher Mikrokosmos entstand, indem sich einige der deutschen Auswanderer selbst nicht als Migranten erleben, sondern als Einheimische.

Ebenfalls interessant sind die biographischen Prägungen der Bewohner, die entweder während des Krieges auf der Suche nach einem besseren und sicheren Leben nach Kanada flüchteten oder einige Jahre nach dem Krieg aus wirtschaftlichen Gründen Deutschland verließen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass besonders viele Frauen ohne Begleitung auf sich allein gestellt den weiten Weg mit dem Schiff in ein bis dato völlig unbekanntes Land auf sich nahmen, ohne zu wissen, was sie dort erwarten würde. Dies weist besonders mutige und emanzipierte Eigenschaften dieser Frauen in einer politisch und gesellschaftlich schwierigen Zeit auf.

Hinsichtlich des Einflusses durch das kanadische Gesundheitssystem zeichnet sich ab, dass einerseits ein Altenpflegeheimplatz in Kanada um ein Vielfaches günstiger ist als in Deutsch-land. Die Finanzierung der eigenen Pflegebedürftigkeit stellt somit für die Bewohner nur eine geringe Belastung dar. Außerdem zeichnet sich ab, dass die Pflegekräfte in diesem Heim zwar derselben Dokumentationspflicht unterliegen, wie Pflegekräfte in deutschen Pflegeheimen. Jedoch wirken die Pflegekräfte nicht hektisch oder überfordert, sondern gelassen und ausgeglichen und nehmen sich viel Zeit für Gespräche mit den Bewohnern. Nach Aussage der Sozialarbeiterin ist es besonders die Arbeitseinstellung, die sich in Kanada verändert. Nach ihrer Aussage neigen Deutsche aufgrund ihres Pünktlichkeitsempfindens zu hektischem Verhalten. Kanadier hingegen weisen ihrer Aussage nach eine gelassene Arbeitsweise auf, die sich die deutschen Mitarbeiter mit der Zeit angeeignet haben.

Letztlich wird deutlich, dass die Pflegekräfte in diesem Heim keine weiße, sondern bunte Arbeitskleidung tragen. Damit wird der klinische Charakter eines Altenpflegeheimes reduziert und ein familiärer Eindruck erzeugt.

Diskussion

Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass es sowohl den alten Menschen als auch den Mitarbeitern in diesem Heim wichtig ist, die eigenen Wurzeln nicht zu verlieren und intensiven Kontakt zu anderen Menschen mit deutschen Wurzeln zu suchen. Gleichwohl fügen sie sich alle in Systeme und Abläufe eines anderen Landes. Mölbert verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Patchwork-Identitäten“ (Mölbert, 2005, S. 50). Die Vermischung zweier unterschiedlicher Kulturen wirkt sich auf die Handlungsstrategien und die Identität der Menschen aus. Das Beispiel zeigt, dass es sich lohnt über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und Arbeitsweisen und Konzepte anderer Altenpflegeheime in anderen Ländern intensiv zu betrachten, um den einen oder anderen Aspekt in die eigenen Arbeitsweisen und Konzepte aufzunehmen.

Literatur

Aengenvoort, A. (1999). Migration – Siedlungsbildung – Akkulturation. Die Auswanderung Nordwestdeutscher nach Ohio, 1830-1914. Stuttgart: Franz Steiner Verlag

Ette, A.; Sauer, L. (2010). Auswanderung aus Deutschland. Daten und Analysen zur internationalen Migration deutscher Staatsbürger. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Mölbert, A. (2005): Alt werden in der zweiten Heimat. Ethnologische Alternsforschung und ihre praktische Anwendung bei deutsch-türkischen Gruppen. Freiburg: Albert-Ludwig-Universität

 

Helen Schneider, Sozialarbeiterin M.A., Studium der Sozialen Arbeit in Darmstadt und Koblenz. Seit 2012 Doktorandin an der Universität Marburg. Von 2008 bis 2013 Leiterin eines Nachbarschaftszentrums beim Caritasverband Wetzlar/Lahn-Dill-Eder e.V. Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften am RheinAhrCampus in Remagen.

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