Hilfen für traumatisierte alte Menschen in Nordrhein-Westfalen
Verbundprojekt Alter und Trauma mit Schulungsangeboten und Informationsplattform jetzt online
„Traumata bei alten Menschen sind ein Tabuthema mit hoher gesellschaftlicher Relevanz, das uns noch viele Jahre beschäftigen wird. Wir fördern die Arbeit dieses Verbundprojektes, denn es bietet mit verschiedenen Standorten im Land und der nötigen Perspektivenvielfalt die Voraussetzung dafür, dass Betroffene und Angehörige entlastet, Fachkräfte geschult und die Thematik in die Breite getragen wird.“ Mit diesen Worten stellte Petra Grobusch, Geschäftsführender Vorstand der Stiftung Wohlfahrtpflege NRW heute in Düsseldorf die Plattform www.alterundtrauma.de der Öffentlichkeit vor. Das nordrhein-westfälische Verbundprojekt „Alte Menschen und Traumata“ sei beispielhaft für jene wegweisenden Projekte, mit denen die Stiftung konzeptionelle Weiterentwicklungen fördere.
Ungefähr zwei Drittel der heute über 65jährigen haben im Krieg, in der Nachkriegszeit oder in ihrem späteren Leben traumatische Erfahrungen gemacht. Altenhilfe ist daher heute oft Arbeit mit traumatisierten Menschen. Viele Betroffene schweigen und weisen dennoch mit oft unerklärlichen „Verhaltensweisen“ auf verschüttete Traumata hin. Zu wissen, was sie erschüttert hat und wie man sie besser unterstützen kann, ist eine wichtige Aufgabe für Fachkräfte und Angehörige. „Die Zeit ist reif für dieses Thema. Wir sehen, dass die Türen offen sind: Hilfen und Angebote werden zahlreich nachgefragt. Es melden sich Betroffene und ihre Angehörigen. Fachleute oder Pflegefachschulen, die den Pflegenachwuchs ausbilden, wünschen sich Schulungen und Informationen. Unsere Botschaft ist: Wer sich mit dem Thema Alter und Trauma beschäftigt, kann erneute Traumatisierungen verhindern.“, erläuterte Anke Lesner, Traumatherapeutin und Leiterin der Beratungsstelle Wildwasser Bielefeld e.V., das Hauptziel des Verbundprojektes. Wildwasser Bielefeld e.V. ist einer von drei Projektträgern, spezialisiert auf die Traumafolgen durch sexualisierte Gewalt bei älteren Frauen. Weitere Projektpartner sind das Institut für soziale Innovationen ISI e.V. in Duisburg, spezialisiert auf das Thema Krieg und Trauma, PariSozial Minden-Lübbecke/Herford sowie das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) e. V. in Köln.
Das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MEGPA) fördert die wissenschaftliche Begleitung des Projekts. Markus Leßmann, Abteilungsleiter Pflege, Alter, demografische Entwicklung im MGEPA: „Wir sind froh, dass das Thema systematisch aufgearbeitet wird und alle Bürgerinnen und Bürgern über die Informations- und Lernplattform informiert werden. Der Projektansatz stimmt, weil er eine zentrale Frage der Pflege in den Fokus stellt: Es geht nicht nur um Fragen der Finanzierbarkeit in der Pflege, sondern um die persönliche Situationen des einzelnen Menschen.“
Die Projektpartner werden in den kommenden drei Jahren Fachkräfte und Angehörige informieren und schulen, Betroffene unterstützen und eine breite Öffentlichkeit für das Thema Alter und Trauma sensibilisieren. Mit Impulsveranstaltungen, Fortbildungen und der Informationsplattform www.alterundtrauma.de werden Informationen, Angebote gegen das Schweigen und Schulungen für eine kluge Begleitung von traumatisierten älteren Menschen zur Verfügung gestellt.
Angebote, Zielgruppen und Projektstandorte:
Die PariSozial Minden-Lübbecke/Herford übernimmt die überregionale Öffentlichkeitsarbeit zum Thema und stellt die Informations- und Lernplattform www.alterundtrauma.de bereit. Fachleute, Angehörige und Betroffene finden dort Grundlagentexte zum Thema Alter und Trauma, Hinweise auf Schulungsangebote und Hilfen, Interviews mit ZeitzeugInnen und einen Zugang zum anonymen Online-Beratungsangebot.
Wildwasser Bielefeld e.V. bietet älteren Frauen, die gewaltvolle Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, Beratungsgespräche und Möglichkeiten zum Austausch mit anderen Frauen an. Das Institut für soziale Innovationen e.V. (ISI), Duisburg, bietet Menschen, die gewaltvolle Kriegserfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, die Gelegenheit zum Austausch in der Gruppe. Vor allem aber sollten Fachkräfte, die mit älteren und alten Menschen zu tun haben, wissen, wie Traumata der Vergangenheit nachwirken können. Darum richten sich die Angebote von ISI e.V. und Wildwasser Bielefeld e.V. an Fachleute in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder in der sozialen Arbeit.
In der Evaluation wird das dip unter anderem dem Blick darauf richten, inwiefern es gelingt, die betroffenen Menschen mit den Angeboten zu erreichen, welche Wirkung die Angebote haben und inwiefern sie eine nachhaltige Wirkung insbesondere in Pflegeeinrichtungen erzielen.
Zahlen und Fakten:
3.560.000 Menschen in NRW sind älter als 65. Etwa ein Drittel der älteren Menschen hat kriegstraumatische Erfahrungen erlitten (Radebold, 2000/2005), ein weiteres Drittel mehr als ein traumatisches Ereignis im Leben erlebt. Kriegskinder erlebten Bombardierungen, Gewalt, Verluste, Hunger und immer wieder Todesangst. Für junge Mädchen und Frauen war sexuelle Gewalt eine zusätzliche reale Bedrohung, die sie selbst oder als Zeuginnen erleben mussten: Nach Schätzungen von Sander und Johr (2005) wurden in ganz Deutschland und vor allem den Ostgebieten Deutschlands von Dezember 1944 bis zum Winter 1945 ca. zwei Millionen Frauen vergewaltigt. Auch außerhalb von Kriegszeiten haben Frauen traumatische Erfahrungen durch sexualisierte Gewalt erlebt: Mehr als 50% kennen sexuelle Belästigung, etwa 15% haben sexuelle Gewalt erlitten (Gesundheitsberichterstattung, Statistisches Bundesamt 2008).
Die Folgen traumatischer Erfahrungen im Alter
Erwachsene erleiden oft Jahrzehnte nach dem Ereignis durch den körperlichen Alterungsprozess und das Gefühl des Ausgeliefertseins eine Trauma-Reaktivierung. Auslöser können sein: Angst vor Krankheit, Pflegebedürftigkeit, akute physische Schmerzen, Veränderungen in der persönlichen Lebenssituationen (Verrentung, Tod des Partners/der Partnerin) – manchmal genügen Alltagssignale wie Blaulicht oder Donnergrollen, um die Erinnerung zu wecken.
Viele betroffene Menschen werden von den Erinnerungen an das Vergangene geradezu überflutet. Nicht selten ist das Wissen um den Auslöser der großen Angst jedoch verschüttet. So leiden die Betroffenen zweifach: Die Angst quält im Alltag und zugleich scheinen die Phänomene unerklärlich. Sexualisierte Gewalterfahrungen bedeuten für ältere Frauen ein doppeltes Dilemma: Sie wurden und werden gesellschaftlich tabuisiert und daher auch von ihnen selbst lange verdrängt und verschwiegen. Nicht gehört und verstanden zu werden, bringt für die Betroffenen neue Verletzungen mit sich. Sie erleben das Gefühl der Erniedrigung, Beschämung, Missachtung und Hoffnungslosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Nicht wenige isolieren sich im Alter, vereinsamen und haben Ängste sowie länger andauernde körperliche und psychische Beeinträchtigungen.