Gemeinsames Wohnen im Alter: blinde, sehbehinderte und sehende Senioren in Pflegeeinrichtungen der ProSENIS gem.GmbH

Die meisten Alten- und Pflegeheime sind für schlecht Sehende nicht gut ausgerüstet. Über die ganze Republik verteilt gibt es deswegen Pflegeeinrichtungen speziell für blinde und sehbehinderte Menschen. Die Existenz von Pflegeheimen widerspricht aber im Grunde dem Inklusionsgedanken. Doch familiäre und/oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen lassen Betroffenen oftmals keine andere Wahl. Für die meisten Bewohner ist das Pflegeheim der letzte Lebensabschnitt, der dann beginnt, wenn selbstständiges Wohnen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist und Pflege notwendig wird. In den Häusern der ProSENIS Service gem. GmbH, einer Tochter des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Niedersachsen e.V., hat sich ein Wandel vollzogen: sehgeschädigte und sehende pflegebedürftige Menschen leben zusammen in einem Pflegeheim. Inklusion innerhalb einer Einrichtung sozusagen.

Etwas ist anders an dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, um das die drei alten Damen im Gemeinschaftsbereich der Pflegeeinrichtung sitzen. Erst beim zweiten Hinschauen fallen die nicht nur farblich, sondern auch von der Form her unterschiedlichen Figuren auf. Zudem werden sie in die Felder gesteckt und die Zahlen des Würfels sind nicht nur sicht-, sondern auch tastbar. Aber nur eine der Spielerinnen macht vom Tasten Gebrauch. Hätte sie jetzt gerade nicht müssen, weil ihr Wurfergebnis von der sehenden Mitspielerin zur Linken geradezu rausposaunt wird: „Eins!“ Verständlicherweise ist in diesem Falle Kontrolle aber besser.

Der Neubau des Seniorendomizils „Am Lönspark“ in Hannover – Kirchrode, in dem die drei Spielerinnen wohnen, wurde im Juli 2004 eröffnet. Die Einrichtung gehört zur ProSENIS Service gem. GmbH. Als eine der ersten Senioreneinrichtungen in Deutschland wurde sie im Passivhausstandard gebaut und ist ökologisch und technisch auf dem neuesten Stand. Aber nicht nur das war und ist wegweisend: Im Seniorendomizil am Lönspark werden pflegebedürftige sehende sowie pflegebedürftige blinde und sehbehinderte Menschen aufgenommen und vollstationär versorgt. Von den 40 Bewohnern ist die Hälfte von einer Seheinschränkung bis hin zur Blindheit betroffen. Auch Senioren mit anderen Behinderungen stehen die Türen offen.

Voraussetzung für ein gemeinsames altersgerechtes Wohnen ist ein in jeder Hinsicht barrierefreies Umfeld. Ein Neubau ermöglicht dabei rechtzeitige Vorüberlegungen. Das Ergebnis im Seniorendomizil „Am Lönspark“ ist u.a. ein kontrastreiches Farbkonzept der Bodenbeläge, der Wände und Möbel. Orientierungshilfen wie z.B. die Reliefpläne der Firma I.L.I.S., Bodengleichheit und Handläufe unterstützen die Mobilität der Bewohner. Eindeutige und tastbare Piktogramme sind im ganzen Gebäude und nicht nur im Fahrstuhl vorhanden, der über zwei Bedienungsborde in unterschiedlichen Höhen und eine Sprachausgabe verfügt. Der Zugang ist über den Haupteingang und über die Terrasse barrierefrei gestaltet. Es gilt: Was für sehbehinderte, blinde, körperbehinderte und auch alte Menschen baulich vonnöten ist, erleichtert allen das Leben.

Räumliche Barrierefreiheit ist aber nur eine Voraussetzung für gemeinsames Wohnen und Leben im Alter. Das gesamte Personal der Einrichtung – ob in der Pflege, Verwaltung, Küche oder als Hausmeister tätig – muss die Bedürfnisse der behinderten Senioren kennen. Marion Bliefernick, Einrichtungsleiterin des Seniorendomizils „Am Lönspark“ und einer weiteren Einrichtung in Wennigsen, in der von 75 Bewohnern fünf blind oder hochgradig sehbehindert sind, hält Fortbildungen und Simulationen unter der Augenbinde und im Rollstuhl deshalb für alle Mitarbeiter für obligatorisch. „Wer einmal unter der Augenbinde den Weg zum WC aufsucht oder einen Eisbecher ohne sehende Kontrolle „genießt“, kann eine Vorstellung vom Leben mit nur wenig oder ohne Augenlicht entwickeln.“ Dazu erlernen die Mitarbeiter die Begleitertechniken und können verschiedene Hilfsmittel ausprobieren, denen sie im Alltag immer wieder begegnen: von der sprechenden Uhr über die Eingießhilfe und die Einfädelhexe bis zum BLG und Daisy-Abspielgerät; last but not least Spiele wie Schach, Malefiz, Romme oder Skat.

Natürlich ist für die Betreuung seheingeschränkter Bewohner mehr Zeit und mehr Personal einzurechnen. Über die täglichen Arbeiten hinaus weist Marion Bliefernick auch auf besondere Situationen hin, beispielsweise, wenn einem sehbehinderten Neubewohner der 30 Seiten umfassende Heimvertrag vorgelesen wird oder der Hausmeister den Winterdienst so erledigen muss, dass Sehbehinderte sich gefahrlos auf dem Gelände bewegen können.

Das Zusammenleben blinder, sehbehinderter und sehender Senioren bleibt auch innerhalb der Gemeinschaft nicht ohne Folgen. Marion Bliefernick hat festgestellt, dass blinde Bewohner für die sehenden eine Bereicherung darstellen: Oftmals altersbedingt selbst zunehmendem Sehverlust ausgesetzt, partizipieren diese von den Erfahrungen der schon seit vielen Jahren oder Jahrzehnten Betroffenen. Und andererseits leisten sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfestellungen und Verantwortung, kennen oftmals die Bedürfnisse ihrer Nachbarin genauso gut wie die Mitarbeiter, kümmern und engagieren sich. Und das kommt nicht nur demjenigen zugute, dem geholfen wird: „Andere zu unterstützen gibt dem Helfenden ein gutes Gefühl“, weiß Marion Bliefernick.

Drei weitere Häuser der ProSENIS Service gem. GmbH bieten die Möglichkeit gemeinsamen Wohnens im Alter. Dabei handelt es sich um ehemalige reine Blindeneinrichtungen in Braunschweig, Hameln und Leer. Mit der Einführung der Pflegeversicherung hatten diese sich 1996 auch sehenden Senioren geöffnet – mit Erfolg. Es war eine programmatische Entscheidung, neben wirtschaftlichen Überlegungen stand damals der Integrationsgedanke im Vordergrund. Einrichtungen und Bewohner wollten heraus aus ihrer Abkapselung. Warum sollten blinde Menschen separiert werden, weshalb sollten sie nicht zusammen mit sehenden Senioren den Alltag gestalten?

Die Öffnung für alle war die richtige Entscheidung. Vorbehalte gegenüber Einrichtungen, in denen blinde Menschen wohnen, gab und gibt es bei Sehenden immer wieder. Doch nachdem erste sehende Senioren sich von den Vorzügen der Häuser überzeugt hatten und eingezogen waren, sprachen sich die Qualitäten der Pflegeeinrichtungen herum. Heute gehören sie zu den begehrten Adressen in ihrer jeweiligen Stadt. Somit konnten die Einrichtungen einerseits ihr Know-how für blinde Menschen weiter zur Verfügung stellen, andererseits die Isolation aufheben und Alten- resp. Pflegeheime anbieten, die für alle Menschen geeignet sind.

Das gilt zukünftig auch für die übrigen Häuser der ProSENIS Service gem.GmbH. Dazu müssen bei Umbaumaßnahmen Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Bewohner hergestellt und Fortbildungen für die Pflegekräfte angeboten werden. Die Regionalvereine des BVN unterstützen die Häuser und beraten betroffene Bewohner sowie die Einrichtungsleiter vor Ort. So kann auch hier gemeinsames Wohnen gelingen.

Mittlerweile ist die „Mensch-ärgere-dich-nicht“ – Partie im Seniorendomizil in Hannover beendet. Die drei Bewohnerinnen lassen das Spiel beim Kaffeetrinken Revue passieren. Wer letztendlich gewonnen hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Eigentlich: alle.

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