Außen–Innenbeziehung im Pflegeheim
Pflegeheime hatten in der Übergangsphase nach der Einführung der Pflegeversicherung viele „Einser-BewohnerInnen“. Rüstige Senioren, die ein- und ausgehen, die Nachrichten vom draußen ins Haus bringen konnten. Heute spielt sich das Leben idealerweise in einer lebendigen und aktivierenden Wohngemeinschaft ab, stark Bedürftige in der Mehrzahl. Ein gut motiviertes Pflegeteam lässt eine im Rahmen des Möglichen positive Gruppe unterschiedlichster Charaktere entstehen. Dennoch – die pflegerischen Notwendigkeiten stehen im Vordergrund – immer und überall, Zeitbudgets takten das Geschehen.
Heute Nachmittag geht eine Wohngruppe in den Garten. Der „Sinnesgarten“ wurde mit Fördermitteln aufwendig hergestellt. Ein Landschaftsarchitekt, mit reicher Erfahrung in diesem Spezialgebiet, hat zusammen mit dem Haus den Garten geplant und gebaut. Hochbeete mit Gartenkräutern, frischem Salat und Schnittblumen bieten eine wohlriechende, greifbare Ernte, die vom Pflanzen bis zum Ernten Anteil nehmen lässt. Die Gruppe freut sich auf den Ausflug in den Garten, dazu trägt auch die positive Einstimmung von Schwester Monika bei.
Nach dem Mittagsschlaf kann es losgehen. Könnte! Nun ist eigentlich ein Logistikunternehmen gefragt. 50% Rollstuhlfahrer, 30% Rollatoren, wenige selbstständige FußgängerInnen. Der Aufzug ist leider nur rollstuhlgängig. Es ist kein größerer Aufzug vorhanden, einer der zwei Rollstühle gleichzeitig aufnehmen kann.
Von 15 BewohnerInnen können 12 mit in den Garten gehen. Also grob 8 Aufzugsfahrten, immer mit Begleitung. Unten wartet Schwester Erika, um die BewohnerInnen in den Garten zu führen. Zwei Schwestern im Transportstress. Der Aufzug muss zwischendurch auch andere Fahrten durchführen.
Nun sind alle BewohnerInnen draußen, es ist ein herrlicher, sonniger Nachmittag. Dann alle wieder zurück. Wie häufig wiederholen wir diese Übung? Von den 90 BewohnerInnen wohnen 60 in den 2 Obergeschossen in 4 Wohngemeinschaften. Das sind Kraftakte für das Haus und sein Pflegepersonal.
Was tun? Die Außen-Innen-Beziehung verbessern! Was sind die Hauptmerkmale dieser Außen-Innen-Beziehung?
– Die Wettersituation, Morgensonne nach vielen Regentagen, Gewitter, erster Schnee.
– Die Natur im Jahresablauf, das erste Grün nach langem Winter, die Farbe der Bäume im Wohnzimmer wirken lassen.
– Den Straßen-, Besucher- und Fußgängerverkehr beobachten, das Kommen und Gehen von Besuchern, Lieferanten usw.
Der „Französische Balkon“ hat in Deutschland beim Bau von Pflegeheimen Karriere gemacht. Bodengleiche Fenster im Bewohnerzimmer gehören zum Werkzeugkasten der Planer. Die Betagte kann vom Bett aus nach Draußen sehen – den Himmel, Häuser, etwas Grün. Heute werden die BewohnerInnen aktiviert, mit großem Engagement in das Wohnzimmer gefahren um Anteil zu nehmen am Gemeinschaftsleben der Wohngruppe. Aus meiner Erfahrung ist das individuelle Zimmer in den neuen Häusern durch die geänderte Betriebsform der Wohngruppe eher zweitrangig, ein Individualraum für Ruhe und Rückzug, bei einem lebendigen Betrieb primär ein Schlafzimmer. Das Wohnen spielt sich im „Wohn-Koch-Esszimmer“ als zentralem Ort der Wohngruppe ab.
Effektive bauliche Maßnahmen zur Herstellung enger direkt erlebbaren Innen-Außen-Beziehung sind:
– Ein großer (Gemeinschafts-)Balkon bzw. eine Terrasse
– Ein offener Innenhof
– Ein Wintergarten
– Kleine Lichthöfe im Gebäudeinneren können die lebendige Beziehung nach Draußen nicht herstellen, sie sind eher problematische Orte deren Pflege fast unlösbare Aufgaben stellt.
Der Balkon ist, wenn er tief und breit genug gebaut ist ein gutes Mittel, um das Draußen hautnah zu erleben. Die Nutzungszeit reduziert sich auf Tage mit Temperaturen über 20 Grad Celsius. Warme Frühlings-, Sommer- und ein paar schöne Herbsttage können zum Sitzen im Freien auf Balkon oder Terrasse einladen. In der restlichen Jahreszeit kann der tief auskragende Balkon den Blick nach unten stark einschränken.
Der Wintergarten ist die bessere Alternative. Er ist ca. 4 m tief, hat Bewegungsraum für Rollstühle, er kann ein paar Pflanzen aufnehmen, die im Jahresablauf zu unterschiedlichen Zeiten blühen und riechen. Er kann nach Bedarf das ganze Jahr mühelos erreicht werden. Er kann klimatisch ein normaler Innenraum sein oder ein echter Außentemperatur bezogener Wintergarten: Einer der Solarenergie zur Erwärmung erlebbar macht, der sich auch im Frühjahr und Herbst schnell auf 20 Grad erwärmt.
Der Kosten- und betriebsgünstige Kompromiss ist der „Erker-Wintergarten“. Er vergrößert das Wohnzimmer in einer Tiefe von rund einem Meter ins Freie. Mindestens 5 m breit und raumhoch verglast lässt er ganzjährig Wetter und Stimmungen im Wohnzimmer erleben. Eine entsprechende Verschattung oder eine Orientierung nach Nord-Ost oder Nord-West verbessern den Wärmeschutz. Bei einem beispielhaften Haus in Haltern „St. Anna“ wurde diese Variante umgesetzt. Sie hat sich als eines der starken Qualitätsmerkmale dieses in jeder Beziehung beispielhaften Hauses bewährt.
Die Architekten aus Ibbenbüren haben beim Haus „St. Anna“ in Haltern nicht nur mit den „Erker-Wintergarten“ eine gute Außen-Innen-Beziehung geschaffen, auch die gläsernen Verbindungsgänge, die die Wohngruppen verbinden, sind Fußwege mit direktem Außenbezug. Im Inneren entstand ein großer Innenhof. Dieser Innenhof ist ein weiteres, jedoch kostenintensives Rezept, um den BewohnerInnen einen geschützten Ort unter offenem Himmel anzubieten. Am Hof entstehen Flursysteme, die Tageslicht ins Haus bringen. Der Schritt aus dem Zimmer ist tagsüber immer ein Schritt ins Helle. Man erkennt, wie der Himmel gestimmt ist.
Leider erlauben heute die gedeckelten Bedingungen der Refinanzierung kaum Projekte in der Art von St. Anna Haltern. Dieses Haus wurde vor 7 Jahren fertiggestellt. Heute gelingt es unter dem Investitions-Kostendruck kaum solche beispielhaften Lösungen in der Planung und Realisierung von Pflegeheimen umzusetzen. Deshalb kann der „Erker- Wintergarten“ ein wirtschaftlich vertretbares Mittel darstellen um eine hohe Aufenthaltsqualität durch erlebbare Innen-Außenbeziehung herzustellen. Bei vielen Bestandspflegeheimen können mit einem solchen „Erker- Wintergarten“ heute introvertierte Wohnbereiche deutlich aufgewertet werden.
Der Bewegungsradius der Bewohnerinnen ist außerordentlich klein. Das Draußen muss ihnen entgegen kommen.
Kurzinfo
Jost Consult Projektsteuerung GmbH
Harry Jost
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