von Franziska Lutz

Senioren, die nicht dazu in der Lage sind, eine Praxis aufzusuchen, werden häufig nicht durch einen Augenarzt betreut. Ein Modellversuch im BRK SeniorenWohnen Alzenau zeigt auf, wie eine Versorgung in der Lebenswelt von pflegebedürftigen Senioren gelingen kann. Unterstützt wird das Projekt durch das Präventionsprogramm „Gutes Sehen in Pflegeeinrichtungen“.

Seheinschränkungen bedeuten einen Verlust an Lebensqualität

Frau Katzer ist eine lebenslustige Seniorin. Sie ist mit ihrem Rollator noch recht mobil, be-sucht gerne Freundinnen und nimmt am sozialen Leben im Haus teil. In letzter Zeit machte sie aber oft einen unsicheren Eindruck. „Beim Gehen war Frau Katzer sehr gehemmt, das fiel auch den anderen Bewohnern auf“, berichtet Sabine Sommer. Sie ist in der sozialen Betreu-ung tätig und hat sich im Rahmen des Präventionsprogramms „Gutes Sehen in Pflegeeinrich-tungen“ als Sehbeauftragte für ihre Einrichtung qualifizieren lassen. Schnell gewann sie den Eindruck, dass Frau Katzers veränderte Stimmung mit einer Verschlechterung des Sehens zusammenhängen könnte.

Frau Katzer ist kein Einzelfall, ein Großteil der Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, hat Probleme mit dem Sehen. Dieser Befund konnte durch die wissenschaftliche Studie „Se-hen im Alter“ bestätigt werden, die vom Gesundheitsministerium Bayern gefördert wurde. Die Ergebnisse, die 2015 veröffentlicht wurden, dokumentieren, dass jeder dritte Bewohner einer Pflegeeinrichtung sehbehindert oder sogar blind ist. Um darauf aufmerksam zu machen und die nötigen Hilfestellungen zu geben, wurde das Präventionsprogramm „Gutes Sehen in Pfle-geeinrichtungen“ ins Leben gerufen, an dem bayerische Pflegeeinrichtungen kostenfrei teil-nehmen können. Finanziert wird die Maßnahme von fünf bayerischen Pflegekassen, der AOK Bayern, dem BKK Landesverband Bayern, der IKK classic, der Knappschaft und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau – SVLFG.

Auch in der Pflegeeinrichtung in Alzenau war das Präventionsprogramm, das von Fachkräf-ten der Blindeninstitutsstiftung durchgeführt wird, der „Türöffner“, der Leitung und Personal erstmals auf das Thema „Sehen im Alter“ aufmerksam machte. Sabine Sommer kennt die Bewohnerinnen und Bewohner in der Pflegeeinrichtung, Veränderungen im Verhalten fallen ihr auf. Durch das Präventionsprogramm wurde sie für das Thema Sehen und seine weitrei-chenden Auswirkungen sensibilisiert. Seitdem schaut sie genauer hin. Warum hat ein Bewoh-ner aufgehört zu lesen, obwohl er das früher gern getan hat?

Start des Modellvorhabens

Fotos: Blindeninstitutsstiftung

Fotos: Blindeninstitutsstiftung

Mit der Unterstützung des Präventionsteams konnte nun ein Modellversuch angestoßen wer-den, bei dem Optiker und Augenarzt zusammenarbeiten und zu den pflegebedürftigen und oft immobilen Bewohnern in die Einrichtung kommen. Eine solche Versorgung vor Ort ist nicht für alle 200 Bewohner des BRK SeniorenWohnens Alzenau machbar – für viele aber auch nicht nötig. Die Bewohner, die noch mobil sind, sollen weiterhin in die Praxis gehen.

Um diejenigen Senioren herauszufiltern, die einen solchen Besuch nicht mehr schaffen, ist zunächst ein erstes Screening notwendig. Gemeinsam mit weiteren Kräften der sozialen Be-treuung, den sogenannten „Alltagshelfern“, fragt Sabine Sommer in den Wohnbereichen nach, welche Bewohnerinnen und Bewohner erste Anzeichen einer Augenerkrankung oder Sehverschlechterung aufweisen und lange nicht von einem Augenarzt untersucht wurden. Als Hilfestellung dient ihnen dabei eine Checkliste zu den ersten Anzeichen einer Sehverschlech-terung, die vom Team des Präventionsprogramms zusammengestellt wurde.

Anschließend sammelt Sabine Sommer die potenziellen Patienten, spricht mit ihnen und den Angehörigen und holt schriftliche Einverständniserklärungen ein. Einige Senioren können da-raufhin mit der Unterstützung ihrer Angehörigen selbst den Augenarzt aufsuchen. Für weitere Bewohner, die aufgrund demenzieller Erkrankungen oder körperlicher Einschränkungen auf eine Versorgung vor Ort angewiesen sind, organisiert die Sehbeauftragte zunächst einen Termin mit dem Augenoptikermeister Jörg Diegelmann. Dieser überprüft Brillen und Lesefä-higkeit der Senioren und hält anschließend Rücksprache mit dem Augenarzt Dr. Werner Bachmann, der für das Modellvorhaben gewonnen werden konnte. Gemeinsam entscheiden sie, dass bei etwa einem Drittel der Senioren, die dem Augenoptiker vorgestellt wurden, eine augenärztliche Untersuchung nötig ist.

Sprechstunde in der Pflegeeinrichtung

Fotos: Blindeninstitutsstiftung

Fotos: Blindeninstitutsstiftung

Auch der Termin mit dem Augenarzt wird von der Sehbeauftragten koordiniert, an einem Freitagvormittag kommt Dr. Bachmann in die Pflegeeinrichtung in Alzenau. Von dem Projekt war er schnell überzeugt: „Ich sehe in der Praxis nur diejenigen, die selbst zum Augenarzt kommen. Diejenigen, die nicht zum Arzt gehen können, sind sozusagen mein blinder Fleck.“ Als Dr. Bachmann eintrifft, warten die ersten Bewohner bereits vor dem temporären Untersu-chungsraum. Die nötigen Geräte hat der Augenarzt mitgebracht: Lesetafeln und Lupen, ein mobiles Augendruckmessgerät, eine Handspaltlampe, Retinomax mobil und ein Skiaskop. Auch die Versichertenkarten kann er mobil einlesen, die Befunde werden später in der Praxis eingegeben.

Eine Patientin ist Frau Katzer. Im Anamnesegespräch gibt sie an, dass ihr das Lesen keinen Spaß mehr macht und klagt über Kopfschmerzen, die vom Auge her ausstrahlen. Vor Jahren wurde sie am linken Auge wegen Grauem Star operiert. Die Untersuchung ergibt schnell: Auch das rechte Auge ist inzwischen von der Erkrankung, die auch Katarakt genannt wird, betroffen und sollte operiert werden. Die Sehbeauftragte Sabine Sommer sieht in der Opera-tion eine Chance: „Ihre Unsicherheit könnte man ihr sicher nehmen, wenn sie wieder besser sehen könnte.“

Dank der guten Vorbereitung der Termine und der Begleitung durch die Sehbeauftragte lau-fen die Untersuchungen reibungslos ab. In der vertrauten Umgebung ist es leichter, einen Zugang zu den Senioren herzustellen. Mittlerweile kommt Dr. Bachmann halbjährlich in die Senioreneinrichtung, um acht bis zehn Bewohner an einem Vormittag zu untersuchen. Pro Patient nimmt er sich etwa eine halbe Stunde Zeit. „Ein flächendeckendes Screening ist wohl nicht möglich, aber wenn die Organisation gut gestuft abläuft, ist die Versorgung in der Ein-richtung durchaus machbar“, zieht der Augenarzt sein Fazit. „Man muss keine Angst vor der Aufgabe haben.“

Das Vorgehen im Modellversuch:

  1. Erstes Screening durch geschultes Fachpersonal der Pflegeeinrichtung
  2. Vor-Ort-Termin mit Augenoptikermeister
  3. Fallbesprechung zwischen Augenoptiker und Augenarzt
  4. Bei Bedarf: Vor-Ort-Termin mit Augenarzt

Die Katarakt-OP von Frau Katzer ist inzwischen erfolgreich durchgeführt worden. Zu dem ambulanten Termin wurde sie von Sabine Sommer begleitet. „Ich bin wieder gut zu Fuß“, freut sich die Seniorin. „Und das Lesen klappt auch wieder – sogar ohne Lesebrille!“ Auch die Kopfschmerzen sind verschwunden. Für die Sehbeauftragte Sabine Sommer steht fest: „Es lohnt sich, das Sehen in den Blick zu nehmen. Wir können dadurch so viel für die Lebensqua-lität und Sicherheit unserer Bewohner tun!“ Auch Dr. Bachmann und Augenoptikermeister Jörg Diegelmann sind von dem Vorgehen überzeugt und werden ihre Zusammenarbeit mit der Pflegeeinrichtung weiterhin vertrauensvoll fortführen.

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2020 zu finden.

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