von Carolin Gravel (Universität zu Köln, Lehrstuhl Audiopädagogik) und Thilo Hohmeister (Blindeninstitut Würzburg)
Seit 2021 bietet das Blindeninstitut Würzburg in Kooperation mit verschiedenen Pflegekassen bayernweit das Präventionsprogramm „Hören und Kommunikation in Pflegeeinrichtungen“ an. Mittlerweile haben über 80 Einrichtungen teilgenommen. Obwohl Hörbeeinträchtigungen ein fester Bestandteil des Pflegealltags sind, werden die Auswirkungen häufig unterschätzt oder falsch gedeutet. Das Team des Präventionsprogramms berät die Einrichtung und empfiehlt unterschiedliche Maßnahmen, mit denen sich die Situation verbessern lässt – ab sofort auch in Tagespflegen.
„Ich hatte einige Bewohner, die bei den Angeboten gar nicht mehr mitgemacht haben und sehr bedrückt wirkten. Da hatten wir schon den Verdacht, dass vielleicht eine Depression vorliegt“, erinnert sich Daniela Donaubauer. Sie ist Leiterin der sozialen Betreuung beim „Wohnen am Schlossanger“, einer vollstationären Pflegeeinrichtung mit gut 70 Bewohnenden im oberbayerischen Höhenkirchen-Siegertsbrunn. Im Rahmen des Präventionsprogramms ließ sie sich zur Hörbeauftragten ausbilden. „Nach der Teilnahme am Präventionsprogramm haben wir Kontakt zu einem örtlichen Hörakustiker aufgenommen, der nun regelmäßig ins Haus kommt und auch die Zusammenarbeit mit einer HNO-Ärztin intensiviert.“ Mittlerweile sind viele Betroffene mit Hörgeräten versorgt und nehmen wieder mit großer Freude an Angeboten wie der Vorleserunde teil.

Im Rahmen des Präventionsprogramms werden in den Einrichtungen Hörüberprüfungen angeboten – Foto: Blindeninstitutsstiftung
Das Team des Präventionsprogramms wie auch Prof. Dr. Karolin Schäfer von der Universität zu Köln sehen es als Problem, dass Hörakustiker und HNO-Ärzte Einrichtungen nur selten oder manchmal gar nicht aufsuchen. Mit ihrem Lehrstuhl hat Prof. Dr. Schäfer das Präventionsprogramm bis einschließlich September 2024 wissenschaftlich begleitet. In diesem Zeitraum wurden bei ca. 500 Personen Hörüberprüfungen durchgeführt. „Bei ca. 40 % der überprüften Personen war mindestens ein Ohr mit Ohrenschmalz verstopft. Das kann einen schon vorliegenden Hörverlust weiter erhöhen sowie ein Risiko für die Ohrgesundheit sein.“ Die Hörüberprüfungen ergaben außerdem, dass 88 % der getesteten Bewohnenden mindestens einen leichtgradigen Hörverlust aufwiesen, die meisten lagen im Bereich einer mittel- bis hochgradigen Schwerhörigkeit. Mit Hörgeräten versorgt waren davon jedoch lediglich 49 %. „Ein unversorgter Hörverlust erschwert nicht nur den Alltag der Betroffenen erheblich, sondern auch den der Pflegekräfte“, erläutert Prof. Dr. Schäfer, „denn Pflege erfordert eine gelingende Kommunikation sowie ein gutes Verständnis von- und füreinander.“
Probleme mit der Raumakustik
Häufige Missverständnisse und Kommunikationsprobleme führen oft zu sozialem Rückzug: Die Bewohner wollen nicht mehr an Angeboten teilnehmen und vermeiden Gesellschaftssituationen, da sie Gesprächen nicht folgen können. Als besonders herausfordernd wird das gemeinsame Essen wahrgenommen, da hier der Geräuschpegel besonders hoch ist. „Ein hoher Lärmpegel wird häufig durch bauliche Gegebenheiten verursacht“, so Frederik Merkt, Leiter des Präventionsprogramms. Kaum ein getesteter Raum der teilnehmenden Einrichtungen habe bisher die DIN-Norm 18041 erfüllt, in der Empfehlungen zur Raumakustik gegeben werden. Umbaumaßnahmen wie der Einbau einer Schallschutzdecke sei vielerorts im laufenden Betrieb kaum möglich, erklärt Merkt, aber es müsse nicht immer gleich „die große Lösung sein“. Das Präventionsteam empfiehlt, mit leicht umsetzbaren Maßnahmen zu beginnen. Während dem Mittagessen können bspw. laute Elektrogeräte wie laufende Fernseher oder Radios ausgeschaltet werden, Filzgleiter unter den Stuhlbeinen senken den Lärmpegel zusätzlich.
Hoher Bedarf an Schulungen für Mitarbeitende

Prof. Dr. Karolin Schäfer von der Universität zu Köln stellt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitstudie zum Präventionsprogramm vor – Foto: Blindeninstitutsstiftung
Insgesamt sollte eine Umgebung geschaffen werden, in der die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen berücksichtigt und bestehende Barrieren für Hören und Kommunikation so weit wie möglich abgebaut werden. Eine dieser Barrieren ist fehlendes Wissen auf Seiten des Personals. Zum Umgang mit hörbeeinträchtigten Bewohnenden und der Anwendung von Kommunikationsstrategien sind Mitarbeitende oft ebenso wenig geschult wie zur Handhabung und Pflege von Hörgeräten. „Es besteht viel Unsicherheit“, so Prof. Dr. Schäfer, „aber durchaus auch eine hohe Lernbereitschaft. 74 % der befragten Mitarbeitenden gaben an, dass sie ein hohes bis sehr hohes Interesse an einer Schulung zu den Themen Hören und Kommunikation haben.“ Bis Ende 2024 wurden bereits 1.400 Mitarbeitende in ihren Einrichtungen durch das Team des Präventionsprogramms geschult. Weitere knapp 100 ließen sich in einer dreitägigen Intensivschulung zu Hörbeauftragten ausbilden, die als Ansprechpartner für andere Mitarbeitende, Bewohnende sowie für deren Angehörige fungieren sollen.
Präventionsprogramm jetzt auch für Tagespflegen
„Das Präventionsprogramm wird von den Einrichtungen sehr gut angenommen und der Bedarf ist auch nach Abschluss des ersten Projektzeitraums ungebrochen hoch“, so Projektleiter Merkt. Die große Nachfrage und erfolgreiche Durchführung haben die beteiligten Pflegekassen dazu bewogen, das Präventionsprogramm bis Ende 2027 zu verlängern. Außerdem wurde das Präventionsprogramm im bereits gestarteten zweiten Projektzeitraum um den teilstationären Sektor erweitert. Mit einem darauf angepassten Ansatz wurden bereits mehrere Tagespflegen erfolgreich beraten, die Rückmeldungen sind bisher durchweg positiv. Anmeldungen sind aktuell für voll- und teilstationäre Einrichtungen möglich, freie Termine noch verfügbar.
In Höhenkirchen-Siegertsbrunn ist man überzeugt davon, dass sich die Teilnahme gelohnt hat: „Egal ob Bewohner oder Pflege – wir profitieren alle davon“, freut sich Daniela Donaubauer. Ein „Mehr“ an Lebensqualität hänge manchmal schon davon ab, einer hörbeeinträchtigten Bewohnerin in der Vorleserunde einen Platz ganz vorne statt weiter hinten anzubieten. Alle Empfehlungen des Präventionsteams müssten gar nicht umgesetzt werden, schon Veränderungen in einzelnen Bereichen könnten die Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen deutlich verbessern. „Es sind oft die kleinen Schritte, mit denen man Großes bewirken kann.“
Weiterführende Informationen für interessierte Pflegeeinrichtungen sowie das Anmeldeformular zur Teilnahme am Präventionsprogramm sind verfügbar unter:
www.blindeninstitut.de/hoeren-und-kommunikation.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 01/2025 erschienen.