Das Thema „Hören und Kommunikation im Alter“ findet bisher wenig Beachtung. Das im Oktober 2021 gestartete Präventionsprogramm soll das Bewusstsein dafür erhöhen.
von Thilo Hohmeister (Blindeninstitut Würzburg)
Bereits nach fünf Minuten füllt sich der Raum wieder – verabredet waren eigentlich zehn. In diesem Zeitraum sollten die TeilnehmerInnen der Schulung die eigene Pflegeeinrichtung erkunden, ausgestattet mit einem Gehörschutz. Viele fühlten sich orientierungslos, auch das Zeitgefühl spielte nicht mehr mit. Bewegungen wurden deutlich verhaltener ausgeführt, Kommunikation mit anderen reduziert oder ganz eingestellt. Alle beschrieben ein Gefühl der Isolation und waren froh, den Gehörschutz wieder abnehmen zu dürfen. „Ich hätte nicht damit gerechnet, wie stark sich die eigene Wahrnehmung verändert“, berichtet eine Teilnehmerin. „Für mich waren zehn Minuten schon anstrengend, für viele unserer BewohnerInnen ist das Alltag.“
In der darauffolgenden Stunde werden die Auswirkungen von Hörbeeinträchtigungen, der Umgang mit Hörhilfen und Kommunikationsstrategien für den Alltag vorgestellt. Gerade der richtige Umgang mit Hörgeräten stößt auf Interesse: Wie lange halten die Batterien? Woran erkennt man, dass sie leer sind? Wie kann ich die Geräte reinigen? Zahlreiche Nachfragen zeigen, dass die angesprochenen Themen für den Arbeitsalltag relevant sind, bisher aber zu wenig Beachtung finden.
Die Mitarbeiterschulung ist eine der Maßnahmen, welche das multidisziplinäre Team des Blindeninstitutes Würzburg in den Pflegeeinrichtungen anbietet. Das im Oktober 2021 gestartete bayernweite Präventionsprogramm wird von den Pflegekassen der AOK Bayern, den Betriebskrankenkassen in Bayern, der IKK classic, der KNAPPSCHAFT und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau – SVLFG gefördert. Die wissenschaftliche Begleitstudie und Evaluation der Universität zu Köln wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege finanziert.
Umfassende Beratung für Einrichtungen und ihre MitarbeiterInnen
Mit dem Programm sollen unterschiedliche Zielgruppen erreicht werden: Die MitarbeiterInnen sollen für das Thema sensibilisiert werden und praktische Hilfestellungen für ihre tägliche Arbeit erhalten. Um das Thema fachlich tiefer zu verankern, werden zusätzlich Hörbeauftragte ausgebildet. Nach Schulungen vor Ort und einem Fachseminar in Würzburg sind sie für KollegInnen, BewohnerInnen und Angehörige die AnsprechpartnerInnen für Hören und Kommunikation in den Häusern.
Auf die Leitungs- und Trägerebene zielen die Hausbegehungen zu hör- und kommunikationsspezifischer Barrierefreiheit ab. Von den Einrichtungsleitungen wird die Akustiksituation oft als „nicht optimal“ eingeschätzt. In vielen Fällen waren die Mängel jedoch gravierender als angenommen. Stark hallende Räume erschweren hörbeeinträchtigten Menschen die Kommunikation oder machen diese sogar unmöglich. In der Folge nehmen BewohnerInnen ihre Mahlzeiten lieber auf dem Zimmer ein, Gruppenangebote werden nicht mehr wahrgenommen. Der soziale Rückzug führt zur Vereinsamung und erhöht das Demenzrisiko erheblich.
Anhand eines individuell erstellten Maßnahmenplanes können die ExpertInnen vom Blindeninstitut verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten der Raumsituation aufzeigen. Manche davon, wie Wandabsorber oder Filzplatten unter den Tischplatten, können mit geringem Aufwand umgesetzt werden, andere, wie z. B. eine Akustikdecke, erfordern bauliche Maßnahmen. Eine Sensibilisierung für akustische Barrierefreiheit kann außerdem dazu führen, dass das Thema bei anstehenden Bauvorhaben direkt in die Planungen einfließt.
Die Hörsituation der BewohnerInnen im Fokus
Eine zentrale Zielgruppe sind die BewohnerInnen der Einrichtungen. Mit ihnen führt ein Akustiker Hörüberprüfungen in der Einrichtung durch. Viele der SeniorInnen sind im Vorfeld aufgeregt, wissen nicht, was auf sie zukommt. Nach kurzer Zeit legt sich die Anspannung und hinterher freuen sich alle, mitgemacht zu haben. „Das war toll, aber zum Schluss auch anstrengend“, so eine Seniorin nach der Überprüfung. Den Experten aus Würzburg überrascht das nicht: „Wer hörbeeinträchtigt ist, muss sich sehr konzentrieren, um etwas zu verstehen. Das strengt nach einer Weile natürlich an. Oft meiden Betroffene daher für sie schwierige Kommunikationssituationen.“ Als anstrengend könne bspw. ein lauter Speisesaal mit parallel ablaufenden Tischgesprächen empfunden werden. Dem kann in vielen Fällen jedoch gezielt mit Hörhilfen entgegengewirkt werden. Ein grundsätzliches Interesse an Hörgeräten ist zwar oft vorhanden, für BewohnerInnen von stationären Pflegeeinrichtungen ist der Weg dahin jedoch schwierig. Bei eingeschränkter Mobilität ist es bereits eine Herausforderung, erst einen Termin beim Ohrenarzt und dann einen zweiten beim Hörakustiker zu vereinbaren und wahrzunehmen. Zudem werden Hörgeräte als teure Anschaffung gesehen, häufig kommentiert mit dem Satz „Das lohnt sich doch in meinem Alter nicht mehr.“ Wer aber eine Verordnung vorlegen kann, erhält eine Versorgung ab 10 € Zuzahlung pro Gerät.
Mitmachen lohnt sich!
Neben den Hörmessungen können alle BewohnerInnen und Mitarbeitende an interaktiven Gruppenangeboten rund um das Thema „Hören und Kommunikation“ teilnehmen. Dabei werden verschiedene Hilfsmittel vorgestellt, die den Austausch im Alltag erleichtern sollen. Zudem gibt es für Angehörige und alle weiteren Interessierten Informationsveranstaltungen, die entweder in den Einrichtungen vor Ort oder online angeboten werden.
Bis Ende September 2024 können insgesamt 75 vollstationäre Pflegeeinrichtungen in ganz Bayern am Präventionsprogramm teilnehmen. Bis jetzt ist die Resonanz sehr gut, aus den Einrichtungen gab es bisher durchweg positive Rückmeldungen. Die Sensibilisierung für die Thematik ist ein erster wichtiger Schritt, um nachhaltige Änderungen anzustoßen. Diese sollen dazu beitragen, die Lebensqualität der BewohnerInnen zu erhöhen und das Arbeitsumfeld der MitarbeiterInnen zu verbessern. Mitmachen lohnt sich!
Weiterführende Informationen für interessierte Pflegeeinrichtungen sowie das Anmeldeformular zur Teilnahme am Präventionsprogramm sind verfügbar unter: www.blindeninstitut.de/hoeren-und-kommunikation
Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2022 zu finden.