von Franziska Köhler (M. A., Blindeninstitut Würzburg)
Carina Sauter ist Gesundheitspädagogin und berät im Rahmen des Präventionsprogramms „Gutes Sehen in Pflegeeinrichtungen“ QM-Beauftragte und Leitungskräfte bayerischer Senioreneinrichtungen im Themenbereich Qualitätsmanagement. Im Interview erklärt sie, warum es sich lohnt, das Sehen systematisch in die Dokumentation, Abläufe und Strukturen einzubinden und welche sehbezogenen Daten unbedingt erfasst werden sollten.
Frau Sauter, allgemein nehmen Bürokratie und Dokumentationspflichten zu. Die meisten würden vermutlich lieber weniger statt mehr Daten erfassen. Warum sollte man dennoch das Sehen in die Dokumentation aufnehmen?
Seit rund fünf Jahren berät unser Präventionsprogramm voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen. Dabei fällt uns stark auf, dass das Thema Sehen allgemein nicht im Bewusstsein ist, obwohl es für die Lebensqualität und Teilhabe der Senioren von zentraler Bedeutung ist. Für sehbehinderte und blinde pflegebedürftige Menschen wäre eine individuelle Unterstützung im Alltag und spezifische Pflege sehr wichtig. Doch wenn Sehbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen dem Personal nicht bekannt sind, können sie auch nicht berücksichtigt werden. Hilfsangebote werden nicht in Anspruch genommen, präventive Maßnahmen und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bleiben aus. Nur wenn aktuelle Daten zur Augengesundheit und zum Sehvermögen für alle Mitarbeitenden verfügbar sind, können entsprechende Maßnahmen abgeleitet werden, sodass sehbeeinträchtigte Senioren die Begleitung und Beratung erhalten, die sie benötigen und die ihnen auch zusteht.
Welche sehbezogenen Daten sollten erfasst werden?
Der wichtigste Ansprechpartner ist der behandelnde Augenarzt. Dieser sollte vermerkt werden ebenso wie das Datum des letzten Termins, damit man rechtzeitig an die nächste Kontrolluntersuchung denkt – was übrigens ab dem 40. Lebensjahr einmal jährlich erfolgen sollte. Liegen Augenerkrankungen vor? Gab es Eingriffe am Auge, z. B. eine Katarakt-OP? Müssen Salben oder Tropfen verabreicht werden und wenn ja, wofür und wann? All diese medizinischen Informationen sind wichtig.
Darüber hinaus sollten auch Hilfsmittel erfasst werden: Gibt es eine oder mehrere Brillen und um welche Art Brille handelt es sich (Ferne, Nähe, Gleitsicht, Sonnenbrille)? Wie alt ist die Brille und wer ist der zuständige Augenoptiker? Werden darüber hinaus noch weitere Sehhilfen verwendet, etwa optische, elektronische Lupen oder ein Bildschirmlesegerät? Werden weitere Hilfsmittel benötigt und genutzt wie z. B. zusätzliches Licht? Neben dem Alter und der Funktionsfähigkeit der Hilfsmittel ist auch ihre Handhabung ein wichtiger Faktor: Benötigt ein Senior Unterstützung bei der Anwendung? Wer kümmert sich um die (tägliche) Reinigung?
Das klingt nach einer ganzen Fülle an Informationen. Aber wie kommt man überhaupt an diese Daten heran?
Am besten ist es, möglichst viele Punkte bereits bei der Neuaufnahme von Bewohnern bzw. Tagespflegegästen abzufragen – dabei kann ein vorgefertigter Fragebogen sehr hilfreich sein. Sehr viele Informationen liefert außerdem der Augenarztbericht, den man gemeinsam mit den Senioren für die Pflegeeinrichtung anfordern kann. Jeder Patient hat einen Anspruch darauf.
Auch Gespräche über Krankheitsgeschichte und Hilfsmittel direkt mit den Senioren und Angehörigen können sehr aufschlussreich sein. Immer wieder berichten Senioren meinen Kolleginnen und mir sehr offen von ihren Augenbeschwerden, wenn wir sie gezielt danach fragen. Mitarbeitende der Pflegeeinrichtung können darüber hinaus auch Verhaltensweisen aufmerksam beobachten: Stürze, unsicheres Gehen, sozialer Rückzug, zunehmende Blendempfindlichkeit oder erhöhter Lichtbedarf – all das kann auf eine Veränderung des Sehens hinweisen. Zudem gibt es einfache Sehscreening-Verfahren, die speziell für die Pflege erarbeitet wurden, wie etwa den ACTO-Sehtest.
Daten allein bringen ja aber noch keine Verbesserung. Wozu kann man diese Informationen dann nutzen?
Der größte Nutzen ist natürlich, dass sich direkt für die Senioren etwas ändert und verbessert. Ca. 75 % der Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen sind von Seheinschränkungen betroffen – die systematische Erfassung und Nutzung sehbezogener Daten kommen dadurch sehr vielen Senioren zugute. Inhalte zum Sehen können in das Pflege-Assessment und in die Maßnahmenplanung integriert werden, z. B. welche Hilfsmittel zum Einsatz kommen oder was es bei der Kommunikation mit blinden Senioren zu beachten gilt. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Ärzte wird ermöglicht. Da Medikamente zur Behandlung verschiedener Grunderkrankungen, z. B. Herz-Kreislaufmedikamente oder Antidepressiva, sich auf die Augen und das Sehen auswirken können, ist das sehr bedeutend.
Auch der Medizinische Dienst hat das Themenfeld der Sinnesbeeinträchtigungen in seine Prüfkriterien mit aufgenommen. Wie kann eine gute Dokumentation hierbei unterstützend wirken?
Die Prüfung erfolgt anhand verschiedener Leitfragen, Schwerpunkte der Qualitätsaussage zur Unterstützung sehbeeinträchtigter Personen sind die Gestaltung des Alltagslebens und die Nutzung von Hilfsmitteln. Diese werden auch in ihrer Funktionsfähigkeit überprüft – da kann es bei einer verschmutzten Brille schon Abzüge in der Bewertung geben. Auch die Maßnahmenplanung bietet eine wichtige Datengrundlage, wenn es um die Kompensation von Beeinträchtigungen geht. In der Informationserfassung gibt die Pflegeeinrichtung an, ob und wie stark das Sehvermögen der versorgten Personen eingeschränkt ist. Hierfür sind verlässliche Daten nötig – am besten der Befund des Augenarztes oder Unterlagen zu einem regelmäßig angewandten Sehscreening.
Für welche Mitarbeitenden sind sehbezogene Daten denn überhaupt wichtig?
Letztlich profitieren alle von gut gepflegten, aktuellen und verständlichen Daten und Unterlagen rund um das Sehen. Die Pflegefachkräfte können beispielsweise Pflegestandards speziell für sehbeeinträchtigte und blinde Senioren berücksichtigen und dadurch die Qualität ihrer Arbeit optimieren. Das Personal der Sozialen Betreuung kann seine Angebote für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen anpassen – viele Maßnahmen der Beschäftigung sind ja sehr visuell ausgerichtet. Auch die Beschäftigten der Hauswirtschaft können das Anrichten der Speisen auf die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen abstimmen und die Essplatzgestaltung verbessern oder bei der Reinigung der Zimmer auf das Beibehalten einer klaren Ordnung achten.
Demnach sollten sehbezogene Daten allen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen, um pflegebedürftigen Menschen mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit eine ganzheitliche Unterstützung zu ermöglichen.
Mehr zum Präventionsprogramm: www.blindeninstitut.de/gutes-sehen
Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2021 zu finden.